Mittwoch, 12. Februar 2014

Murakamis neuer Roman: Heilt eine Reise in die Vergangenheit alle Wunden?

3,5 Millionen Menschen passieren täglich den „Shinjuku“ - den größten Bahnhof Tokios. Berufspendler und Reisende hechten von Zug zu Zug, schieben sich durch die Gänge und die Rolltreppen hinauf- und hinunter, um pünktlich ihr Ziel zu erreichen. Eigentlich kein idyllischer Ort, vielmehr eine Explosion großstädtischer Hektik.

Doch Tsukuru Tazaki liebt es, sich dort aufzuhalten. Er eilt nicht von A nach B, sondern setzt sich am Bahnsteig auf eine Bank, um das rege Treiben zu beobachten, die an- und abfahrenden Züge, Menschen, die einander wiedersehen, zusammen aufbrechen oder sich verabschieden. Stunden kann Tsukuru so vertreiben; es bereitet ihm nicht minder großes Vergnügen wie anderen Menschen ein Kinofilm oder ein Konzertbesuch.

So war es schon immer. Seit Tsukuru denken kann, faszinierte ihn die Bahnhofswelt - so sehr, dass er sie zu seinem Beruf machte und nun, im Alter von 36 Jahren, als gestandener Ingenieur Bahnhöfe konstruiert. Vielleicht ist ihm diese Eigenschaft bereits in die Wiege gelegt worden - denn „Tsukuru“ steht für das japanischen Verb „machen“.

Etwas zu schaffen, Bahnhöfe zu kreieren, damit andere Menschen sicher ans Ziel kommen, mag also Tsukurus Berufung sein. Doch er selbst hält sich nur für mittelmäßig - „farblos“, wie er es selbst formuliert. Und dies nicht ohne Grund: Seine vier besten Freunde aus der Schulzeit - zwei Jungen und zwei Mädchen - tragen allesamt eine Farbe in ihren Nachnamen. Ein wenig außen vor fühlte sich Tsukuru deshalb hin und wieder.

Mag dies auch der Grund dafür sein, dass er eines Tages, aus heiterem Himmel, aus der Gruppe ausgeschlossen wird? Dieser Frage folgt der Leser des neuen Romans von Haruki Murakami - „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ (Dumont). Der Mittdreißiger lebt seit seiner Studienzeit in Tokio, ist beruflich erfolgreich, hin und wieder führte er eine Beziehung, zur festen Partnerschaft und Heirat kam es nie.

Doch nun tritt Sara in sein Leben und damit erstmals eine Frau, mit der Tsukuru Tazaki sich eine
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gemeinsame Zukunft vorstellen kann. Wenn da nur nicht dieses Problem wäre, das Tsukuru seit vielen Jahren mit sich herumträgt - genau genommen seit seinem zwanzigsten Lebensjahr, kurz nachdem er seine Heimatstadt Nagoya verlassen hatte.

Weshalb nur hatten sich seine vier Freunde damals so urplötzlich von ihm abgewendet? Schien es doch, als zeichne sich die Gruppe durch eine unzerstörbare Harmonie aus. Obwohl Tsukuru seinerzeit entsetzlich gelitten hatte und sich gar den Tod herbeiwünschte, vergrub er den Schmerz tief in seinem Unterbewusstsein.

Sara ist es, die ihn schließlich dazu bewegt, herauszufinden, was damals wirklich geschah und was aus seinen Freunden geworden ist. Die Reise in die Vergangenheit führt Tsukuru nicht nur ins heimische Nagoya, sondern auch nach Finnland.

Murakamis neuestes Werk bewegt sich zwischen großen, intensiven Emotionen, wie sie nur zwischenmenschliche Beziehungen hervorrufen können. Am Ende stellt sich heraus, dass Tsukuru womöglich doch gar nicht so farblos ist, wie er selbst glaubt. Schließlich baut er die besten Bahnhöfe - und vielleicht erschafft er - im metaphorischen Sinne - auch einen Bahnhof für Sara?