Sonntag, 22. Juni 2014

Neuübersetzung: "Washington Square" von Henry James, dem Meister des psychologischen Erzählens

Plötzlich stand er vor ihr, der „bemerkenswert gut“ aussehende junge Morris Townsend - die Bekanntschaft eines solch eloquenten Charmeurs zu machen, war kaum die Erwartung von Catherine Sloper gewesen, als sie sich zur Verlobungsfeier ihrer Cousine begeben hatte. Doch ganz offensichtlich war sein Interesse an ihr groß und ihr Entzücken nicht minder… der Beginn einer romantischen Liaison? Ganz so einfach verhält es sich nicht. Denn schließlich ist Catherine als Tochter eines wohlhabenden Arztes im New York Mitte der 1850er Jahre eine äußerst gute Partie. Das wiederum stimmt Catherines Vater misstrauisch gegenüber dem Werben des jungen Mannes. In den Augen von Dr. Austin Sloper ist Catherine nicht eben eine junge Dame, die das männliche Geschlecht durch ihre Schönheit, Anmut oder Intelligenz bezaubern könnte. Besitzt sie nach Ansicht ihres Vaters doch keine dieser Eigenschaften in besonderem Maße.

Es scheint, als stehe die sich anbahnende Beziehung zwischen Catherine und Morris unter keinem guten Stern. Zumal Catherine in ihrem Vater eine in jeder Hinsicht ehrenwerte moralische und autoritäre Instanz sieht. „Liebe fordert bestimmte Dinge als ihr Recht; Catherine aber hatte keinen Sinn für ihre Rechte; sie hatte lediglich ein Bewusstsein von unermesslichen und unerwarteten Gunstbezeigungen“, befindet der auktoriale Erzähler in Henry James Roman, der 1881 erstmals in Buchform erschien und jetzt bei Manesse in einer Neuübersetzung vorliegt. 

Und welche Motive hat Morris Townsend wirklich? Ist er ein Mitgiftjäger, wie von Dr. Sloper befürchtet? Dem Leser fällt es schwer, sich ein Urteil darüber zu bilden. Denn der Erzähler spielt meisterlich mit den Erwartungen des Lesers: Hier eine Andeutung, dort ein ironischer Kommentar und dennoch stets plastische Beschreibungen der emotionalen und rationalen Beweggründe und Beziehungen der Figuren untereinander.

Für zusätzliches Amusement des Lesers und Turbulenzen auf Handlungsebene sorgt Catherines Tante Lavinia Penniman, deren Hang zu romantischen und dramatischen Liebesgeschichten eine ganz eigene Wendung der Ereignisse bewirken mag.
Catherine selbst schwankt zwischen kindlichem Gehorsam, Pflichtgefühl, ihren Gefühlen für Morris und dem wachsenden Bedürfnis, eigenverantwortlich zu handeln und zu entscheiden.
Wird die zwölfmonatige Europareise, auf die Dr. Sloper seine Tochter mitnimmt, Catherine zur Vernunft bringen - wie ihr Vater es erhofft? Nach der Rückkehr ins heimische New York, an den Wohnsitz der Familie am Washington Square, verlaufen die Ereignisse anders, als es Catherine selbst erwartet hätte. 

Am Ende des Romans bleibt der Leser fasziniert zurück ob der sprachlichen Raffinesse, mit der Henry James das emotionale Innenleben und den Charakter seiner Figuren offenbar werden lässt, ohne damit die Wendungen der Handlung vorwegzunehmen. Vielmehr schwankt auch der Leser zwischen den doch all zu menschlichen Motiven der einzelnen Protagonisten. Und das ist ganz im Sinne des Autors: „Glaube nichts was dir irgendjemand über irgendjemand anderes erzählt. Beurteile jeden und alles für dich selbst“, lautet ein bekanntes Zitat von Henry James.

Die Neuübersetzung von „Washington Square“ (Manesse Verlag, Zürich, Übersetzung: Bettina Blumenberg, ISBN: 978-3-7175-2310-9, 24,95 Euro) ebenso wie weitere Werke des amerikanischen Schriftstellers erhalten Sie bei Felix Jud. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!