Donnerstag, 1. Oktober 2020

Sehnsucht nach dem Mond

 

Über das Lob für unsere Youtube-Lesung mit Daniel Mellem eines Twitter-Nutzers haben wir uns sehr gefreut: "Tolles Beispiel für ein hochprofessionelles Lesungs- und Gesprächsvideo in einer Buchhandlung. Chapeau"! Als Zusatzmaterial finden Sie hier ein verschriftlichtes Interview zwischen Marcus Dahmke und Daniel Mellem über dessen Debütroman „Die Erfindung des Countdowns“.

Dahmke: Lieber Herr Mellem, in meiner Jugend habe ich liebend gerne den französischen Schriftsteller Jules Verne gelesen und gehört; unter anderem auch den Doppelband „Von der Erde zum Mond“ und „Die Reise um den Mond“. Auch der Protagonist, Hermann Oberth, in Ihrem Roman hat mit Jules Verne geträumt: von der Möglichkeit mit einem Flugobjekt unseren Trabanten zu erreichen. Wie stehen Sie zu Jules Verne? Hat er Sie vielleicht sogar zum Physikstudium inspiriert?

Mellem: Jules Verne habe ich in meiner Kindheit nicht gelesen, aber sicher hat die Fiktion auch bei meiner Begeisterung für die Physik eine Rolle gespielt. Ich habe in meiner Jugend zum Beispiel unheimlich gern Star Trek: The Next Generation geschaut, das damals täglich im Fernsehen kann. Captain Picard und seine Crew haben sich mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen herumgeschlagen und das hat auch mich damals inspiriert. Leider gibt es heute meinem Empfinden nach nur noch selten positive Science Fiction. Wir beschäftigen uns sehr mit Dystopien und natürlich liegen in neuen Technologien auch immer Gefahren. Aber wissenschaftliche Neugier ist nichts, was per se schlecht ist – das dürfen wir dabei nicht vergessen.

Dahmke: Wie sind Sie auf den historischen Hermann Oberth, der zwischen 1894 und 1989 tatsächlich gelebt hat, aufmerksam geworden? Und warum ist die Wahl auf die Gattung des Romans gefallen? 

Mellem: Bis vor etwa fünf Jahren kannte ich Oberth selbst gar nicht. Damals las ich über Frau im Mond und stieß dabei zwangsläufig auf ihn. Er hat mich sofort fasziniert mit einem Leben voller Sehnsüchte und Verfehlungen. Nachhaltig beindruckt hat mich, dass Oberth schon früh von der Raumfahrt träumte und dann selbst dabei war, als die ersten Menschen zu Mond flogen – er war ein Utopist, der die Erfüllung seiner Utopie erlebte. Die Literatur gibt mir die Möglichkeit, ein solches Leben erlebbar zu machen. Zu zeigen, wie es sich angefühlt haben könnte für so eine Figur, die exemplarisch steht für einen Menschen, der nach etwas greift, das er eigentlich nicht erreichen kann. Um so eine Perspektive einzunehmen, muss man natürlich erfinden – was aber nicht heißt, dass die Recherche entfällt. Im Gegenteil: Ich muss über die Fakten Bescheid wissen, damit ich überhaupt erst erfinden kann. Dafür habe ich mich mit Oberths Werken beschäftigt, Biographien über ihn gelesen, Briefwechsel, habe wichtige Orte in seinem Leben wie Schäßburg und Peenemünde besucht. So habe ich versucht, mich dieser Figur zu nähern und einen Weg zu finden, von ihr zu erzählen. Im Großen bin ich dabei faktisch, im Kleinen fiktional. Heißt: Meilensteine, die die Figur Hermann abschreitet, ist die historische Person Oberth so oder ähnlich auch gegangen. Aber die Wahrnehmung der Welt, die vielen Begegnungen, die Dialoge, die Konflikte, die einzelnen Episoden bilden eine fiktive Wirklichkeit, die nicht identisch ist mit der historischen Wirklichkeit. Es ist nicht das Leben der historischen Person Hermann Oberth, sondern eine Möglichkeit davon.

Dahmke: Den Jungen, den wir am Anfang des Romans bei seinen Abenteuern in der Umgebung von Siebenbürgen in Österreich-Ungarn erleben und der mit Jules Verne im Gepäck rudern gegangen ist, wird zu einem einzelgängerischen Charakter; in sich gekehrt fängt er an zu studieren. Welche Bedeutung spielt diese soziale Abkanzelung für die Entwicklung des Protagonisten?  

Mellem: Oberths Einzelgängertum ist ganz zentral für seinen Lebensweg. Zum einen hilft ihm bei der Entwicklung seiner Ideen. Erst der Junge, der sich in sich selbst zurückzieht und in seinem Ruderboot von Verne träumt, kann eine Weltraumrakete erfinden und sich ihr ganz verschreiben. Zum anderen aber verunmöglicht genau diese soziale Abkanzelung, sich mit Verbündeten seiner Idee zusammenzutun. Es gab in den zwanziger Jahren einige Raketenenthusiasten, die sich für Oberths „Rakete zu den Planetenräumen“, diese sperrige Formelarbeit, begeistern konnten, nicht umsonst wurde 1927 der Verein für Raumschiffahrt gegründet. Aber Oberth gelang es nie, das für sich zu nutzen. Er war schüchtern, unfähig eine solche Bewegung anzuführen. Dazu war er ein Fanatiker seiner Idee, der nur schwer Kompromisse machen konnte – das führte zwangsläufig zu Konflikten mit beispielsweise Max Valier, der mit Fritz von Opel die Raketenautos baute.

Dahmke: Gleichzeitig beginnt das Zeitalter der Utopien. Höher, schneller, weiter wird zur Devise der Welt Anfang des 20. Jahrhunderts; Raketenautos starten, der Film verspricht Ausflüge in fremde Welten. Hermann Oberth muss mit obskuren Kreisen in Kontakt treten, um seine Forschung finanzieren zu können, da seine Ideen von der Wissenschaft abgelehnt werden. In was für Zeiten hat Oberth um Anerkennung gerungen?

Mellem: Oberths Arbeit fiel in den zwanziger Jahren auf fruchtbaren Boden. Die technologische Entwicklung hatte eine Sprung gemacht, Autos eroberten die Straßen, Flugzeuge die Luft. Auch in der Physik war auf einmal vieles denkbar: Quantenmechanik und Relativitätstheorie veränderten das Verständnis der Welt von Grund auf. Für Oberth und seine Idee war das ein Vorteil, weil auf einmal vieles möglich schien – eben auch eine Rakete, um in den Weltraum zu fahren. Gleichzeitig war es für ihn aber unheimlich schwer, sich von Scharlatanen abzugrenzen. Max Valier, der ein großer Vorkämpfer von Oberths Idee war, war überzeugter Anhänger der esoterischen Welteislehre von Hanns Hörbiger, die schon damals aus wissenschaftlicher Sicht Unsinn war. Oberth war es sehr wichtig, vor allem auch die Gelehrten von seiner Idee zu überzeugen – vermutlich nicht zuletzt wegen seiner Enttäuschung über die abgelehnte Doktorarbeit. Dass die Wissenschaft ihn nicht weiter ernst genommen hat, hat ihn verbittert. Auf der einen Seite gegenüber den Gelehrten und auf der anderen Seite gegenüber seinen Mitstreitern wie Valier, denen er vorwarf, nicht wissenschaftlich genug zu arbeiten.

Dahmke: Oberth war nicht nur in entscheidende Umbrüche des 20. Jahrhunderts verstrickt (für die Nationalsozialisten hat er die Raketentechnik vorangetrieben), er war auch Familienvater, eine Rolle, für die er nicht gemacht schien. Wie wichtig sind Empathie und Mitgefühl oder das Fehlen solcher Gefühle in dieser Zeit? Sollte man zwischen Oberth als Wissenschaftler und Oberth als Familienvater unterscheiden? Darf man das? Im Roman werden große moralphilosophische Fragen behandelt. Wie wichtig sind diese, um solch einen ambivalenten Charakter vor dem Panorama des letzten Jahrhunderts zu verstehen?

Mellem: Oberth hat für sich streng zwischen der beruflichen Verbitterung und seinem familiären Glück unterschieden. Ich persönlich halte das für schwierig. Denn: Seinen Traum zu verfolgen, bedeutete für ihn, ein unstetes Leben zu führen. Er musste oft umziehen, verlor seine Arbeit, kam in finanzielle Nöte – diese Sorgen haben zwangsläufig dann auch seine Familie berührt. Allgemein gesprochen: Ich halte es nicht für möglich, Wissenschaft von moralphilosophischen Fragen zu trennen. Es gibt keine kindliche Unschuld von Wissenschaft, für die Erkenntnis Selbstzweck ist – das ist ein nicht erreichbares Ideal. Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die sich in sozialen, politischen, wirtschaftlichen Kontexten bewegen. Natürlich rückwirkt – wenngleich wohl meist unbeabsichtigt und unbewusst – auf die Forschung, die betrieben wird: Was wird geforscht? Wie wird geforscht? Wofür wird geforscht? Erst so ist es m.E. erklärbar, dass jemand wie Oberth mit seiner Rakete einerseits an den Weltraum dachte, andererseits aber auch an eine Waffe für die Nazis. Deshalb muss man bei Forschung die moralphilosophischen Fragen immer mitdenken.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Das Buch können Sie über den Online-Shop oder direkt vor Ort erwerben.