Mittwoch, 27. Mai 2020
Über abenteuerliche Tschechienfahrten, neue Bücher von Anthony Powell und Simon Raven und andere Großprojekte
Im Gespräch mit Ingo Držečnik, Mitbegründer des Elfenbein Verlags
Alles begann in Heidelberg im Jahr 1996: Mit Mitte 20 gründeten Ingo Držečnik und Roman Pliske den Elfenbein Verlag. Im Interview erzählt Herr Držečnik von der schönen und recht sorglosen Zeit. „Wir waren Studenten, unsere Eltern haben noch den Großteil unseres Lebens finanziert, und den Verlag hatten wir sozusagen nebenbei gegründet.“ Die Neckarstadt habe ihn geprägt: durch das Studium (Germanistik und Geschichte), durch die zehn Jahre, die er dort gelebt hat und durch die Freundschaften, die er dort geschlossen hat: neben Roman Pliske habe er in Heidelberg viele weitere ihm persönlich sehr wichtige Menschen kennengelernt, die nicht unwesentlichen Anteil am Gedeih des Elfenbein Verlags hatten und haben, z.B. Sabine Franke, die Simon Ravens Zyklus Almosen fürs Vergessen übersetzt. „Der Name Elfenbein Verlag wurde übrigens in Inges Weinloch beschlossen, einer neonröhrenbeleuchteten und völlig verrauchten Kneipe in der Heidelberger Altstadt, in der wir vornehmlich um Mitternacht auf einen Schlummertrunk und das dort legendäre Eibrot einkehrten. Der Verlagsname sollte klangvoll sein, ein edles Programm ausdrücken und irgendwie auch klassisch daherkommen.“
Auf die Frage, ob es tatsächlich zu Autoverkäufen und den in der Verlagsgeschichte geschilderten „abenteuerlichen Tschechienfahrten“ gekommen sei, um den Verlag aus den Kinderschuhen zu helfen, meint Herr Držečnik: „Wir haben den italienischen Sportwagen und die ganzen Oldtimer verkauft … Kleiner Scherz – ich besaß nur einen Fiat Uno, der, kaum dass ich ihn verkauft hatte, einen Getriebeschaden hatte, und Roman Pliske einen Ro 80, dessen Wankelmotor dann aber doch zu wankelmütig wurde. Man braucht aber Gründungslegenden.“ Er erinnere sich nicht an jede einzelne Tschechienfahrt, aber an eine sehr genau: „Wir hatten bei der Abholung des Romans Mein skrupelloses Sexleben auf Ibiza von Gregor Eisenhauer (kein Scherz!) nicht damit gerechnet, dass ein bayerischer Grenzbeamter darunter Bedenkliches verstehen könnte. 500 Exemplare dieses Buches lagen im Kofferraum unseres Golfs, als wir an der deutsch-tschechischen Grenze die Papiere zur Anmeldung der Einfuhrumsatzsteuer ausfüllten. Der Grenzbeamte inspizierte die Ware genauer als sonst, er las tatsächlich in dem Buch. Diese Minuten haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt, und der uns Absolution erteilende Satz: ,kein pornografischer Inhalt festgestellt‘ wurde in die Papiere eingetragen, und wir durften passieren.“
Immer wieder zog der Verlag nach der Heidelberger Zeit um, bis es zu einem ganz entscheidenden Umzug im Jahr 2014 kam. Der Verlag war inzwischen in Berlin angekommen. „Das war schon der fünfte Umzug.“, erzählt Ingo Držečnik. „Ich musste mich von einem Ladengeschäft mit 50 qm trennen, in dem sich auch ein Archivberg befand, den ich abtragen wollte und dabei stieß ich auf die drei ersten Bände von Anthony Powells wunderbarem Tanz. Ich hatte sie 2001 zum ersten Mal in der Hand, als Powell gerade verstorben war und die NZZ einen großen Nachruf brachte. Meine Erstlektüre hatte damals nicht den bleibenden Eindruck hinterlassen, der für eine Veröffentlichung nötig gewesen wäre (ich war wohl noch zu jung), wirkten aber immerhin so, dass ich die Bände aufbewahrte. Beim Umzug 2014 las ich die Bände erneut, war sofort begeistert und davon überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei alle Bände herauszubringen.“ Die Tatsache, dass es in der Vergangenheit bereits drei Versuche gegeben hatte, den Romanzyklus in deutscher Übersetzung herauszugeben habe ihn keineswegs abgeschreckt, sondern vielmehr ermutigt. „Es ist ja kein Geheimnis, dass gerade solche Projekte, für die es offenbar keinen Massenmarkt gibt, in kleineren Verlagen Chancen haben.“
Der Übersetzer, Heinz Feldmann, den Ingo Držečnik unbedingt bei dem Projekt dabeihaben wollte, war schnell kontaktiert, die Verträge nach etwa zwei Monaten intensiver Verhandlungen unterschriftsreif. „Aber genau in diesem Moment versuchte eine ,Parallelaktion‘ meine Bemühungen zu torpedieren. Das fühlte sich wie ein herber Schlag in die Magengrube an. Verlegerkollegen bedauerten mich, rieten mir, es sportlich zu nehmen. Nun, um bei der Sportmetapher zu bleiben: Am Ende eines Boxkampfs siegt, sofern es kein K.o. gibt, immer der, der die bessere Strategie hat und mehr Punkte sammelt. Im Falle des Tanzes haben die Söhne Powells schließlich Elfenbein den Zuschlag gegeben. Und das hatte wesentlich mit meiner Entscheidung zu tun, Heinz Feldmann zu beauftragen, die noch nicht erschienenen Romane übersetzen zu lassen; in Powells Tagebuch findet sich über Feldmann ein wichtiger Satz: ,I’m lucky to have him as a translator.‘ Die Zusammenarbeit mit Heinz Feldmann war – und ist, denn wir bereiten zusammen gerade die Übersetzung von Powells Vorkriegsromanen vor – ganz und gar wunderbar. Und die Tatsache, dass die ersten drei Romane bereits in Übersetzung publiziert vorlagen und der vierte in Feldmanns Schublade, hat die Realisierung erleichtert: So konnte ich im Herbst 2015 mit den vier Romanen starten und das Feuilleton davon überzeugen, dass dieser Anlauf wirklich ernst gemeint war.“
Inzwischen ist der 12-bändige Zyklus abgeschlossen, es gibt ein Handbuch mit Personenregister, das viele interessante Informationen bietet und die Biographie von Powell. Neben hymnischen Feuilleton-Besprechungen wurde dem Verlag u.a. 2018 der Kurt-Wolff-Preis zugesprochen. Der Preisbegründung zufolge auch, weil er eben jenen Romanzyklus verlegt habe, erzählt Ingo Držečnik. „Das Geld kam gerade recht, weil ich zu dem Zeitpunkt an neue Projekte dachte. Sie werden lachen: Es gibt weitere hochkarätige englische Romanserien, die hierzulande noch nie gelesen werden konnten.“
Neben der Werkausgabe zu Arthur Machen (sprich: Mecken), einem laut Damien Walter vom Guardian „vergessenen Vater der Schauergeschichte“ ist im Frühjahr 2020 der erste Band der Werkausgabe von Simon Ravens Almosen fürs Vergessen erschienen.
„Simon Raven ist hierzulande überhaupt nicht bekannt, und dass er etwa zur selben Zeit, in der Anthony Powell seinen Tanz schrieb, an einem mehrbändigen Zyklus arbeitete, wird viele überraschen. Raven kann hierzulande zum ersten Mal entdeckt werden, sein zehnbändiger Almosen-Romanzyklus ist noch nie ins Deutsche übersetzt worden.“
Mal mehr, mal weniger locker mit dem Lebensweg des englischen Berufssoldaten und Schriftstellers Fielding Gray verbunden, der nach einem Indienaufenthalt auf Zypern und in Deutschland stationiert ist, umspannen die zehn eigenständig lesbaren Romane erzählerisch die Jahre 1945 bis 1973. Sie sind miteinander verwoben durch die Mitglieder einer Gruppe privilegierter Internatsschüler, die sich im ersten Band Fielding Gray anschicken, in verschiedene politische, publizistische, wirtschaftliche und militärische Schaltstellen des britischen Gesellschaftslebens aufzurücken. Berührend, unerschrocken und höchst unterhaltsam erzählt Simon Raven davon, wie ,menschliches Bemühen und Wohlwollen beständig dem heimtückischen Wirken von Zeit, Zufall und der übrigen Menschheit ausgesetzt sind‘. Ein elitäres Bildungssystem, der Zusammenbruch des Britischen Reiches, Suezkrise und Kalter Krieg bilden den Hintergrund, vor dem die moralische Hybris und die menschlichen Schwächen der britischen Oberschicht und der zunehmend auch tonangebenden ,Upper Middle Class‘ ins Visier genommen werden. Almosen fürs Vergessen sei in gewisser Weise mit dem Tanz vergleichbar, und doch wieder nicht, versichert Ingo Držečnik. Die Lektüre der Almosen sei eine gute Ergänzung zum Tanz, weil auch Einblicke in niedrigere Gesellschaftsschichten erlaubt würden und weil Simon Raven nirgends ein Blatt vor den Mund nimmt. Dem Vorwurf, ein Snob zu sein, begegnete Raven mit dem Hinweis, er schreibe „für Leute, die sind wie ich: gebildet, weltgewandt und skeptisch.“
Der zweite Band der Almosen mit dem Titel Die Säbelschwadron wird im Oktober 2020 erscheinen. Wir freuen uns schon!
Bei Abnahme der Werkausgabe(n) wird ein Subskriptionspreis gewährt.
Deutscher Verlagspreis 19, Kurt Wolff Preis 18, Preis der Hotlist 18
Weiteres zum Verlag, der Verlagsgeschichte und vor allem zu den Büchern:
http://www.elfenbein-verlag.de
Wir gratulieren ganz herzlich zum Deutschen Verlagspreis 2020!
Dienstag, 19. Mai 2020
Die übermütige Lust, Texte zu entdecken
Simon Strauß, Autor, FAZ-Theaterkritiker und Mitbegründer der Gruppe "Arbeit an Europa" las bei uns bereits 2017 aus seinem Debütroman "Sieben Nächte". Wir haben dem jungen Phantasieaktivist vier Fragen gestellt: über seine jüngst erschienene Anthologie "Spielplanänderung" und das Theater in Corona-Zeiten.
Just als Sie Ihr neues Buch „Spielplanänderung“ mit einer „Langen Nacht der vergessenen Stücke“ an der Berliner Volksbühne vorstellen wollten, stellten die Theaterhäuser ihren Betrieb ein. Bis auf weiteres sind sie als Ort des weiten Denkens, aber engen Sitzens geschlossen. Provokant gefragt: Während Youtube-Kanäle Millionenaufrufe erzielen, scheint das Theater, außer der engeren Community, nicht wirklich jemand zu vermissen. Schockiert Sie das? Dass die dringlichen Fragen der Zeit nicht auf der Bühne, sondern im iPhone verhandelt werden?
Aber für Waschmittel interessieren sich ja noch mal mehr Menschen als für die YouTuber…Im Ernst: Ich glaube, das Theater ist lange genug im Geschäft, um sich keine allzu großen Sorgen um seine Wahrnehmung zu machen. Es kann bei Kunst ja nie um Fragen der Quantität gehen, nicht das "wie viele" zählt, sondern das "wer". Das deutsche Theater hat im weltweiten Vergleich eine einzigartige Stellung. Wir leisten uns ein weitverzweigtes Netz an Schauspielhäusern, die eben mehr sind als nur Orte reiner Unterhaltung. Eine Sogkraft geht noch vom kleinsten Provinztheater aus: Hier werden Dinge verhandelt, die höher und bedeutender als unser Alltag sind, die uns ergreifen, überwältigen und abschrecken können. Für die Tagesthemen reicht das iPhone gerade aus, aber für das Weltgeschehen brauchen wir die Bühnen. Unsere „Lange Nacht der vergessenen Stücke“ wird übrigens in Kooperation mit der FAZ und dem Tropen-Verlag stattfinden: Im Herbst an der Berliner Volksbühne, im Januar 2021 am Salzburger Landestheater und 2022 in Bern.
In Ihrem Buch stellen 30 Autorinnen und Autoren 30 wenig bis gar nicht mehr gespielte Theaterstücke vor. Sie kritisieren mit Ihrer Anthologie das enge Spektrum der Theaterprogramme und plädieren für Entdeckerfreude und Archivexpeditionen. Sie wurden 1988 geboren - zu welchem Stück, in welche Zeit, in welches Theater mit welcher Besetzung würden Sie sich gerne zurückzoomen, um einen unvergesslichen Abend zu erleben?
Ich wäre gerne bei der Premiere von Maurice Maeterlincks „Interieur“ dabei gewesen. Diesem vergessenen Einakter über den schwierigsten Moment: Zwei Männer wissen um den Tod eines jungen Mädchens und stehen nun vor dem Haus ihrer Familie, schauen durchs Fenster, dehnen die Zeit, um die Nachricht nicht überbringen zu müssen. Es ist ein Stück, das mehr verheimlicht als es erzählt und doch hat es eine ungeheure Stimmung, eine existenzielle Aura, ein dichtes Ambiente der Schicksalswahrheit. Die Duse müsste da mitspielen und - wenn ich in den Zeiten springen darf - Oskar Werner. Beckett, den heute alle zu Recht schätzen, wäre undenkbar ohne Maeterlinck. Dass er auf unseren Bühnen nicht gespielt wird, ist ein Skandal. Es ist trotz allem eigentlich weniger Kritik, das unser Buch bewegt, sondern die übermütige Lust daran, fantastische Theatertexte zu entdecken, die vom Mainstream unerkannt sind.
Unsere Kunden fragen sehr selten nach dramatischen Stücken, höchstens nach einem Reclam-Heft, um im Theater mitzulesen. Die Bühnen werden oft mit Roman-Adaptionen bespielt und zeitgenössische dramatische Stücke erscheinen kaum noch als gedrucktes Buch beziehungsweise finden keine Resonanz. Die Zeiten, in denen ein Theaterstück das ganze Land bewegt und zudem als Text gelesen wird, scheint vorbei. Ist das bedauerlich?
Ja, natürlich ist es schade, dass heute die zeitgenössische Dramatik nicht mehr den selben Stellenwert hat wie vor zwanzig Jahren. Die amerikanische Serie hat ihr den Rang abgelaufen, darüber spricht das ganze Land. Ich sehe zwei Tendenzen, mit denen das zeitgenössische Theater darauf reagiert: Einerseits das von Ihnen angesprochene Adaptieren (das übrigens nicht bei Romanen haltmacht, sondern sich auf Filme, Sachbücher und Computerspiele erstreckt) und auf der anderen Seite die möglichst ausgefallene Inszenierung der immer gleichen Klassiker. Der Kanon ist dabei sehr eng begrenzt. Ich würde eben sagen, 80 Prozent der Texte, die der dramatische Kosmos für uns bereithält, kennen wir gar nicht. Und darin liegt eine große Chance für ein literarisches Theater der Zukunft. Denn eine Generation, die von den dramaturgischen Erzähltechniken der Serie geprägt ist, wird sich besser in ein von Spannungsbögen gehaltenes Drama hineinversetzen können als die vorherige Generation, die mit Dekonstruktion und Anything Goes aufgewachsen ist.
Wenn Sie ein Theater für ein Jahr bespielen dürften: Welche Stücke und welche Autorinnen und Autoren Ihrer Generation würden Sie aufführen?!
Um es klar zu sagen: Unsere „Spielplanänderung“ nimmt sich nicht heraus zu behaupten, dass es keine interessanten Stimmen in der gegenwärtigen Dramatik gibt. Denken Sie nur an Namen wie Ewald Palmetshofer, Ferdinand Schmalz, Wolfram Lotz, aber auch Thomas Melle und Maja Zade. Eine der besten, aber vom dekonstruktionsversessenen Regietheater enttäuschte Dramatikerin ist bei uns dabei: Nino Haratischwili. Wenn ich ein Theater bespielen dürfte, würde ich sie alle um Stücke oder Fantasien bitten. Und als Gegengewicht alle dreißig vergessenen Stücke aufführen. Man muss sie auf die Bühne bringen, um zu wissen, ob sie noch leben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Robert Eberhardt.
Simon Strauß. Spielplanänderung, Tropen Verlag, 262 Seiten, 20 Euro.
Vorrätig bei Felix Jud, Neuer Wall 13, Hamburg, oder in unserem Webshop!
Just als Sie Ihr neues Buch „Spielplanänderung“ mit einer „Langen Nacht der vergessenen Stücke“ an der Berliner Volksbühne vorstellen wollten, stellten die Theaterhäuser ihren Betrieb ein. Bis auf weiteres sind sie als Ort des weiten Denkens, aber engen Sitzens geschlossen. Provokant gefragt: Während Youtube-Kanäle Millionenaufrufe erzielen, scheint das Theater, außer der engeren Community, nicht wirklich jemand zu vermissen. Schockiert Sie das? Dass die dringlichen Fragen der Zeit nicht auf der Bühne, sondern im iPhone verhandelt werden?
Aber für Waschmittel interessieren sich ja noch mal mehr Menschen als für die YouTuber…Im Ernst: Ich glaube, das Theater ist lange genug im Geschäft, um sich keine allzu großen Sorgen um seine Wahrnehmung zu machen. Es kann bei Kunst ja nie um Fragen der Quantität gehen, nicht das "wie viele" zählt, sondern das "wer". Das deutsche Theater hat im weltweiten Vergleich eine einzigartige Stellung. Wir leisten uns ein weitverzweigtes Netz an Schauspielhäusern, die eben mehr sind als nur Orte reiner Unterhaltung. Eine Sogkraft geht noch vom kleinsten Provinztheater aus: Hier werden Dinge verhandelt, die höher und bedeutender als unser Alltag sind, die uns ergreifen, überwältigen und abschrecken können. Für die Tagesthemen reicht das iPhone gerade aus, aber für das Weltgeschehen brauchen wir die Bühnen. Unsere „Lange Nacht der vergessenen Stücke“ wird übrigens in Kooperation mit der FAZ und dem Tropen-Verlag stattfinden: Im Herbst an der Berliner Volksbühne, im Januar 2021 am Salzburger Landestheater und 2022 in Bern.
Theaterkritiker Simon Strauß, hier im Südthüringer Staatstheater Meiningen |
In Ihrem Buch stellen 30 Autorinnen und Autoren 30 wenig bis gar nicht mehr gespielte Theaterstücke vor. Sie kritisieren mit Ihrer Anthologie das enge Spektrum der Theaterprogramme und plädieren für Entdeckerfreude und Archivexpeditionen. Sie wurden 1988 geboren - zu welchem Stück, in welche Zeit, in welches Theater mit welcher Besetzung würden Sie sich gerne zurückzoomen, um einen unvergesslichen Abend zu erleben?
Ich wäre gerne bei der Premiere von Maurice Maeterlincks „Interieur“ dabei gewesen. Diesem vergessenen Einakter über den schwierigsten Moment: Zwei Männer wissen um den Tod eines jungen Mädchens und stehen nun vor dem Haus ihrer Familie, schauen durchs Fenster, dehnen die Zeit, um die Nachricht nicht überbringen zu müssen. Es ist ein Stück, das mehr verheimlicht als es erzählt und doch hat es eine ungeheure Stimmung, eine existenzielle Aura, ein dichtes Ambiente der Schicksalswahrheit. Die Duse müsste da mitspielen und - wenn ich in den Zeiten springen darf - Oskar Werner. Beckett, den heute alle zu Recht schätzen, wäre undenkbar ohne Maeterlinck. Dass er auf unseren Bühnen nicht gespielt wird, ist ein Skandal. Es ist trotz allem eigentlich weniger Kritik, das unser Buch bewegt, sondern die übermütige Lust daran, fantastische Theatertexte zu entdecken, die vom Mainstream unerkannt sind.
Die Bühnen bleiben momentan leer - Theaterstücke können trotzdem entdeckt werden: als Texte. |
Unsere Kunden fragen sehr selten nach dramatischen Stücken, höchstens nach einem Reclam-Heft, um im Theater mitzulesen. Die Bühnen werden oft mit Roman-Adaptionen bespielt und zeitgenössische dramatische Stücke erscheinen kaum noch als gedrucktes Buch beziehungsweise finden keine Resonanz. Die Zeiten, in denen ein Theaterstück das ganze Land bewegt und zudem als Text gelesen wird, scheint vorbei. Ist das bedauerlich?
Ja, natürlich ist es schade, dass heute die zeitgenössische Dramatik nicht mehr den selben Stellenwert hat wie vor zwanzig Jahren. Die amerikanische Serie hat ihr den Rang abgelaufen, darüber spricht das ganze Land. Ich sehe zwei Tendenzen, mit denen das zeitgenössische Theater darauf reagiert: Einerseits das von Ihnen angesprochene Adaptieren (das übrigens nicht bei Romanen haltmacht, sondern sich auf Filme, Sachbücher und Computerspiele erstreckt) und auf der anderen Seite die möglichst ausgefallene Inszenierung der immer gleichen Klassiker. Der Kanon ist dabei sehr eng begrenzt. Ich würde eben sagen, 80 Prozent der Texte, die der dramatische Kosmos für uns bereithält, kennen wir gar nicht. Und darin liegt eine große Chance für ein literarisches Theater der Zukunft. Denn eine Generation, die von den dramaturgischen Erzähltechniken der Serie geprägt ist, wird sich besser in ein von Spannungsbögen gehaltenes Drama hineinversetzen können als die vorherige Generation, die mit Dekonstruktion und Anything Goes aufgewachsen ist.
Wenn Sie ein Theater für ein Jahr bespielen dürften: Welche Stücke und welche Autorinnen und Autoren Ihrer Generation würden Sie aufführen?!
Um es klar zu sagen: Unsere „Spielplanänderung“ nimmt sich nicht heraus zu behaupten, dass es keine interessanten Stimmen in der gegenwärtigen Dramatik gibt. Denken Sie nur an Namen wie Ewald Palmetshofer, Ferdinand Schmalz, Wolfram Lotz, aber auch Thomas Melle und Maja Zade. Eine der besten, aber vom dekonstruktionsversessenen Regietheater enttäuschte Dramatikerin ist bei uns dabei: Nino Haratischwili. Wenn ich ein Theater bespielen dürfte, würde ich sie alle um Stücke oder Fantasien bitten. Und als Gegengewicht alle dreißig vergessenen Stücke aufführen. Man muss sie auf die Bühne bringen, um zu wissen, ob sie noch leben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Robert Eberhardt.
Simon Strauß. Spielplanänderung, Tropen Verlag, 262 Seiten, 20 Euro.
Vorrätig bei Felix Jud, Neuer Wall 13, Hamburg, oder in unserem Webshop!
Abonnieren
Posts (Atom)