Mittwoch, 28. Juni 2023

Jubiläums-Führung 1923

1923 ist Gründungsjahr der Freunde der Hamburger Kunsthalle - und auch auch von uns, von Felix Jud. Und so besuchten anlässlich des 100-jährigen Doppeljubiläums die aktuelle Ausstellung „1923: Gesichter einer Zeit“ in der Hamburger Kunsthalle. Zu einer Führung mit der Kuratorin Dr. Karin Schick hatten wir unsere Kunden eingeladen.

Dr. Karin Schick


Geführt wurden wir durch Ausstellungsräume in leuchtendem Korallenrot, die sich deutlich abhoben vom Sammlungsrundgang und uns in aufrührerische Stimmung versetzten, in das so spannungsgeladene Jahr zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner überbordenden Vielfalt unterschiedlichster künstlerischer Stilrichtungen. Ob Impressionismus eines Lovis Corinth, Expressionismus einer Dorothea Maetzel-Johannsen, Neue Sachlichkeit bei Anita Rée und Otto Dix, Surrealismus von Max Ernst oder abstrakte Moderne eines Wassily Kandinskys, nahezu alle avantgardistischen Strömungen fanden erstaunlicher Weise ein Nebeneinander in diesem Jahr.




Schwungvoll, musikalisch im Takt der 20er begleitet, beleuchtete uns die Expertin für die Kunst der ersten Hälfte des vorangehenden Jahrhunderts, Karin Schick, das reiche malerische Spektrum dieser farbintensiven Darstellungen des Menschen und von Landschaften. Neben den Gemälden von Ausnahmekünstlern wie Félix Vallotton, ist auch eine ungewöhnliche goldglänzende Metall-Skulptur zu sehen, eine Anspielung auf das Maschinenzeitalter und eine Zukunft mit Robotern, die uns mit Wucht in die Gegenwart katapultierte.



Samstag, 24. Juni 2023

Fremdsprachliche Bücher

Die englische Abteilung unserer Buchhandlung wächst. Um ein internationales Publikum, sowie den wachsenden Teil der deutschen, die gerne im Original lesen, mit Lektüre versorgen zu können, haben wir eine Auswahl an Literatur und Sachbüchern in englischer Sprache und auch einige Titel auf anderen Sprachen im Geschäft. Darunter Französisch, Italienisch, Spanisch und Koreanisch.

Literarische Neuerscheinungen wie Cursed Bunny von Bora Chung, Demon Copperhead von Barbara Kingsolver (ausgezeichnet mit dem Pultizer Prize 2023) und Whale von Myeong-Kwan Cheong (Nominiert für den International Booker Prize 2023) stehen bei uns auf den Regalen. Spannungsfans finden die Thriller von Ragnar Jonasson und Hervé le Tellier neben anderen Klassikern der Spannungsliteratur. Klassiker aus aller Welt, entweder im Original, oder ins Englische übersetzt, stehen hier für Sie bereit, nicht zuletzt Werke von Thomas Mann herausgegeben von Vintage und übersetzt von H.T. Lowe-Porter und David Luke.



Neuerdings finden Sie bei uns auch die schönen Bücher von Fitzcarraldo Editions. Dieser unabhängige Verlag publiziert seit 2014 zeitgenössische Romane und inspirierende Essays. Ein großer Wert wird auf Übersetzungen aus aller Welt gelegt und im Fokus stehen Titel, die durch innovative Sprache auffallen. Besonders empfehlen wir Ihnen The Book of Jacob von der Literatur Nobelpreisträgerin Olga Tokarzcuk und The Netanyahus von Joshua Cohen. Diese Editionen sind nicht nur höchst lesenswert, sondern schmücken auch Ihr Bücherregal.

Auch Penguin hat mit den Clothbound Classics eine Reihe herausgebracht, die großes Sammlerpotential hat. In dieser Serie veröffentlicht Penguin im schönen Leineneinband Klassiker von Emily Brontë, Jonathan Swift, George Orwell und vielen weiteren. Jedes Buch wird von der Künstlerin Coralie Bickford-Smith mit einem einzigartigen Design versehen. Hiermit will Penguin nicht nur die Klassiker selbst ehren, sondern auch das Buch und seine Produktion an sich zelebrieren.

Über das englischsprachige Sortiment hinaus, verfügen wir auch über eine Selektion von Literatur in anderen Sprachen. Der Reclam Verlag veröffentlicht sowohl zweisprachige Titel – im orangefarbenen Umschlag – darunter auch antike Klassiker auf Latein und Griechisch. Manch ein Schüler musste sich vielleicht durch diese Titel quälen, doch für freiwillig wissbegierige sind sie ein großer Schatz. Die roten Reclam Bücher bringen den Lesern Texte in Originalfassung, unter anderem auf Französisch, Italienisch und Spanisch.

Über Reclam hinaus stellen wir Ihnen auch stets eine eigene Auswahl fremdsprachlicher Literatur zusammen. Hierbei handelt es sich aus einer Kombination von Büchern in ihrer Originalsprache und Werken, die in die jeweilige Sprache übersetzt wurden. So haben wir beispielsweise Regarde les lumières mon amour von Annie Ernaux und Klara et le Soleil von Kazuo Ishiguro auf Französisch im Angebot oder La forma dell’acqua von Andrea Camilleri und Lessico Famigliare von Natalia Ginzburg auf Italienisch. Eine kleine Literaturauswahl haben wir inzwischen auch in koreanischer Sprache und einige arabische Titel sind verfügbar.

Stöbern Sie gerne durch unsere Auswahl. Was aus Platzgründen noch nicht auf unseren Regalen steht, kann gerne für Sie bestellt werden. Wir würden Sie gerne inspirieren, eine neue Sprache zu lernen oder eine fast vergessene aufzufrischen!


Links:

Cursed Bunny | Demon Copperhead | Whale | The Darkness | The Anomaly | The Magic Mountain | The Books of Jacob | The Netanyahus | Wuthering Heights | Gulliver's Travels | Nineteen Eighty-Four | Regarde Les Lumieres, Mon Amour | Klara et le Soleil | La forma dell' acqua | Lessico famigliare

Dienstag, 9. Mai 2023

 

Irische Literatur

Irland, diese wunderschöne grüne Insel, zeichnet nicht nur für ihre atemberaubenden Landschaften, freundlichen Einwohner, U2 und das gute Bier aus: Irland ist auch ein Land der Kultur. Dieses Land, mit seiner überschaubaren Bevölkerung, hat auch eine beachtliche Anzahl literarischer Legenden hervorgebracht. Hier möchten wir Ihnen eine kleine Gruppe irischer Autoren vorstellen und Ihnen ein paar Leseempfehlungen geben.

James Joyce

ist natürlich einer der berühmtesten irischen Autoren und wichtigster Vertreter der irischen Moderne. Mit seinen experimentellen Texten hat er so manch einem Literaturstudenten Kopfschmerzen bereitet. Der Ulysses-Autor wurde 1882 in Dublin geboren und verstarb 1941 in der Schweiz. Wie viele Iren hatte Joyce eine komplizierte Beziehung zu seinem Herkunftsland und mehr als die Hälfte seines Lebens auf dem europäischen Festland. Trotzdem, wie stets in seinen Werken zu lesen ist, hatte er eine Intensive, wenn auch komplizierte, Liebe zu Dublin selbst und die Stadt ist Protagonistin in seinen Werken. Wenn man Dublin erkunden möchte, kann man das durch die Bücher von Joyce mühelos zuhause aus.

Dubliner, eine Sammlung von fünfzehn unabhängigen Kurzgeschichten, ist sein erste Prosawerk. Aus einer Kombination von Autobiografischen Elementen und Beobachtungen aus dem Leben, hat Joyce in diesem Zyklus seine Heimatstadt portraitiert.

Joyce legt großen Wert auf die realistische Darstellung von Dublin und seinen Einwohnern. Einige Szenen sind autobiografisch inspiriert, viel entstammt seiner erstaunlichen Beobachtungsgabe, oft hat er sich am Leben seiner Freunde und Verwandten vergriffen. Wahrheit und ihre Darstellung waren für Joyce nicht nur von künstlerischer, sondern auch vor moralischer Priorität. Er hielt es für wichtig der irischen Bevölkerung zu zeigen, wer sie sei und schrieb an seinen Verleger, als die Publikation sich verzögerte: „Ich glaube ernsthaft dass Sie den Fortschritt der Zivilisation in Irland dadurch aufhalten werden, dass Sie die Iren daran hindern einen Blick in den Spiegel zu werfen.“

Die Iren, die in Dubliner skizziert werden, sind eindeutig vom hundert Jahre andauernden Niedergang der Stadt beeinträchtigt. Dublin hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwar noch beeindruckende Straßenzüge und Parks, doch die Wirtschaft liegt fast still. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele leben in unzumutbaren Umständen. Joyce konzentriert sich auf die Charaktere der unteren Mittelschicht und ihre Sorgen. Jegliche sozialen Ambitionen, die seine Protagonisten pflegen mögen, werden als naiv entlarvt. Gewalt gegen Kinder und Frauen, ist ein wiederkehrendes Thema. Joyce kritisiert auch die Macht, die die katholische Kirche ausübt. Er hält die Kolonialherrschaft der Engländer für den Ursprung allen Übels auf der Insel und wundert sich doch, warum die Bevölkerung sich so bereitwillig von der Tyrannei Englands in die aus Rom flüchtet.

In wenigen Worten bekommt man ein klares Bild einer Stadt und einer Zeit. Joyce‘ Talent liegt darin Details so zu schreiben, dass mit wenig Pinselstrich ein überzeugendes Portrait einer Stadt entsteht.

James Joyce, Dubliner, 254S, € 4,95


Flann O‘Brien

Flann O‘Brien, der eigentlich Brian O’Nolan heißt, wurde 1911 in country Tyrone geboren und starb 1966 in Dublin. Wie auch James Joyce, von dem er beeinflusst wurde, ist er als einer der wichtigsten Vertreter der irischen Moderne bekannt und er wird vor allem für seinen Humor geschätzt, den er auch in seinen Satiren zur Schau stellt. Schon als Student fing er fleißig an zu schrieben und gründete mit einigen Kommilitonen auch ein Literatur Magazin

The Third Policeman wurde zwischen 1939 und 1940 geschrieben, fand jedoch keinen Verleger. Erst im Jahr nach dem Tod des Autors wurde der Roman veröffentlicht. Das Buch spielt auf dem Land und wird aus der Perspektive eines jungen Forschers erzählt, der sich mit dem fiktiven Philosophen de Selby beschäftigt. In seiner Jugend erleidet unser Erzähler mehrere Schicksalsschläge: er verliert nicht nur sein Bein, sondern auch seine Eltern. Doch er widmet sein Leben Recherche über de Selby und verfasst schließlich ein Buch, welches er selbst für ein Meisterwerk hält. Leider hat er aber kein Geld, und somit keine Möglichkeit es zu veröffentlichen. Als er feststellt, dass sein Freund Divney aus Neid und Gier einen Mord plant, um den wohlhabenderen Mathers zu bestehlen, sieht er seine Gelegenheit an Geld zu kommen. Da Divney nach dem Attentat nicht verraten möchte, wo er seine Beute versteckt hat, weicht der Erzähler ihm nicht mehr von der Seite. Und das über mehrere Jahre hinweg. Schließlich führt ihn eine Kombination eigentümlicher Vorkommnisse zu einer Polizeistation, in der drei Polizisten sitzen, die von Fahrrädern fasziniert sind. Gänzlich unerwartet lernt er hier eine wilde Mischung verwirrende Theorien und irrationale Konzepte kennen. Es geht um die Essenz der Zeit, Tod, und Existenz.

The Third Policeman ist mysteriös und surreal. Auf seine experimentelle Art macht sich der Autor über irische Kultur, Sprache und Gesellschaft lustig. Die Insel mit ihrer komplizierten Geschichte und ihren komplexen Einwohnern stehen im Mittelpunkt des Romans. All das verpackt Flann O’Brien mit spielerischer Freude in viel Humor. Wer keine Angst vor absurden Texten hat, wird von dieser Lektüre reich belohnt.

Flann O'Brien, The Third Policeman, 221S, € 12,55


Colm Toìbìn

Colm Toìbìn, geboren 1955 in County Wexford, ist ein sehr aktiver und erfolgreicher Autor. Er hat zehn Romane geschrieben, hat Kurzgeschichtensammlungen herausgebracht und viele sachliche Texte verfasst. In seinen Kurzgeschichten und Romanen befasst Toìbìn sich mit irischer Gesellschaft und Diaspora, der katholischen Religion und ihren Vermächtnissen, und auch mit Maskulinität und Homosexualität.

Brooklyn, erschienen im Jahr 2009, spielt in den fünfziger Jahren und befasst sich mit einem weiteren Thema, das Irland bis heute stark beeinflusst: der Auswanderung. In den 50ern ist Irland noch ein sehr armes Land, für junge Leute gibt es kaum Perspektiven, Jobs sind rar, gute Jobs eigentlich nicht existent. Eilis Lacey ist eine junge Frau aus Enniscorthy, deren Familie mit Hilfe des Pastors organisiert, dass sie Irland verlassen und nach New York auswandern kann. Sie arbeitet in einem Kaufhaus und nimmt an einem Buchhaltungskurs teil. Doch Heimweh, verstärkt durch den langweiligen Job und das Leben im Haus einer strengen Irin, plagt sie sehr und lässt sie an ihrer Entscheidung, die Heimat zu verlassen, zweifeln. Ganz langsam gestaltet sie ihr bescheidenes Leben und verliebt sich schließlich in einen italienischen Klempner – und schon sieht die Welt viel schöner aus! Eilis kann die Möglichkeiten, die New York ihr bietet, wieder sehen und genießen. Sie malt sich aus, wie ihr Leben mit Tony sein könnte. Bis zuhause in Irland ein Unglück passiert und sie für einige Wochen in die Heimat zurückkehren muss. Am Beispiel einer jungen, mutigen und doch ängstlichen Frau, stellt Colm Toìbìn den Zwiespalt dar, den manch ein Migrant verspürt. Eilis ist hin und hergerissen zwischen der Verbundenheit zu ihren Wurzeln und dem Ort, an dem sie glaubt wachsen zu können.

Brooklyn ist ein feinfühliger und berührender Roman der genau dieses Zerrissen Sein, dass so viele Iren erfahren haben, gekonnt in den Vordergrund rückt.

Colm Toìbìn, Brooklyn, 304S, € 10,90


Claire Keegan

Claire Keegan wurde 1968 in Wicklow, südlich von Dublin geboren und bekannt durch ihre Kurzgeschichten, welche sie seit 1999 veröffentlicht. Den größten Erfolg hatte sie jedoch mit Kleine Dinge Wie Diese (2021). Was Keegan so besonders macht ist ihre sparsame Sprache. Sie braucht nicht mehr als einhundert Seiten um alles zu sagen, was gesagt werden muss. Dieses Buch ist wie ein Diamant, komprimiert bis nur noch das notwendige übrigbleibt und das strahlt unwahrscheinlich hell.

Es ist kurz vor Weihnachten 1985 in einer kleinen Stadt in Irland. Bill Furlong ist Kohlehändler und weiß, dass für ihn die arbeitsamste Zeit beginnt. Es ist Winter und kalt, jeder friert, doch auf dem Land in Irland ist man arm. Kaum jemand kann sich die Energie leisten, die zum Heizen gebraucht wird. Wir folgen Furlong von Haus zu Haus und treffen einen sehr großzügigen Mann, der seinen Kunden ihre Bestellung gerne auf Rechnung liefert, auch wenn er nicht weiß ob er bezahlt werden wird. Zuhause muss seine Frau versuchen auch ohne das Geld die fünf Töchter zu ernähren. Eine Mutter, die die Güte und Großzügigkeit ihres Mannes liebt, sich aber zum Schutz ihrer Kinder dagegen wehren muss. Eines Morgens stößt Furlong auf etwas, dass sein Weltbild verändert und in ihm eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit auslöst.

Am Rande der Stadt ist ein Konvent, mit einer Schule, die auch seine Töchter besuchen und einer Wäscherei, in der junge Frauen arbeiten. Als Bill Furlong die Kohlelieferung für das Konvent abgehen möchte, kommt er an einer Tür vorbei die geschlossen hätte sein sollen und trifft auf ein Mädchen, schmutzig, ausgehungert und auf der Suche nach ihrem Baby. Sie wird schnell eingefangen und weggebracht, Furlong wird von einer Schwester abgelenkt, aber die Bilder werden ihn nicht mehr verlassen.

Diese kleine aber eindrucksvolle Novelle dreht sich um die Macht, die die katholische Kirche bis vor kurzem auf Irlands Bevölkerung ausgeübt hat. Die Magdalene Laundries waren von der Kirche geführte Heime, in denen junge Frauen, die zum Beispiel außerehelich schwanger wurden, eingesperrt und versklavt wurden. Die Spannung in Keegans Buch stammt zum einen aus der Frage ob Furlong auf seine Erkenntnis hin handeln wird, zum anderen aus der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der er lebt, in der viele wissen oder zumindest vermuten, was vor sich geht und doch niemand etwas unternimmt. Furlong kämpft mit dem Wissen, dass eine falsche Entscheidung den Ruin für seine Familie bedeuten könnte, doch sein Gewissen lässt ihn nicht in Ruhe und er kann nicht umhin sich vorzustellen, wie sein Leben ganz anders hätte verlaufen können.

Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese, 112S, € 20


Audrey McGee

hat im letzten Jahr ihr zweites Buch veröffentlicht und wurde schon für den Women’s Prize for Fiction und den Booker Prize nominiert.

The Colony handelt von den Zwängen und Regeln, die einer Gesellschaft durch die Kolonisierung auferlegt werden und beschäftigt sich insbesondere mit deren Auswirkung auf Sprache und Kunst. Der Roman spielt auf einer winzig kleinen irischen Insel (gerade mal 3 Meilen lang) in den späten 70er Jahren. Es ist einer der wenigen Orte an denen noch ausschließlich Irisch gesprochen wird und die Einwohner stark traditionsverbunden Leben. Die alltägliche Routine wird unterbrochen, als zwei Fremde für den Sommer auf die Insel kommen.

Mr Lloyd ist Künstler aus London, der sich sehnt die Steilküsten und fast unberührten Landschaften zu malen und seine stagnierende Karriere wiederzubeleben. Er erwartet Einsamkeit und ist dementsprechend verärgert, als er feststellt, dass noch ein anderer Ausländer zu Gast kommt. Jean-Pierre ist ein französischer Linguist, der schon seit Jahren regelmäßig auf die Insel reist, um die Entwicklung der irischen Sprache in diesem fast gänzlich abgeschlossenen Raum zu studieren. Die Anwesenheit des Engländers beunruhigt ihn, da er die jüngeren Bewohner zum Englisch sprechen anregt und er befürchtet, seine Studien nicht mit dem gewünschten Ergebnis abschließen zu können. Er sieht diese Insel als „sein“ Land, auf das er als Wissenschaftler Vorrecht hat.

Der Engländer und der Franzose kommen sich immer wieder in die Quere und werfen einander vor, idealisierte Bilder der Insel und ihrer Einwohner zu haben. Schließlich wird dieser Kampf vor allem auf dem jungen James ausgetragen, einem der wenigen Jugendlichen, die hier noch leben. James – Seamus, wie JP ihn gegen seinen Willen nennt – möchte nicht enden wie sein Vater, Onkel und Großvater, die beim Fischen verunglückt und ertrunken sind. Er fürchtet das Meer, und obwohl er eine enge Beziehung zu seiner Mutter hat und für seine Familie da sein möchte, kann er sich eine Zukunft nicht vorstellen in der er lediglich die Vergangenheit wiederholt. Er fühlt sich zu der Kunst Lloyds hingezogen und schon bald überzeugt er den grimmigen Maler dazu ihm etwas beizubringen. So entwickelt James den Wunsch die Insel zu verlassen und in London Kunst zu studieren. Doch noch etwas dringt von außen auf die Insel: immer häufiger werdende Nachrichten von Gewalt und Opfern der „Troubles“ in Nordirland. Das Buch ist immer wieder unterbrochen von kurzen, sachlichen Reportagen über die terroristischen Anschläge und Morde zwischen Protestanten und Katholiken. Schritt für Schritt findet diese Realität auch Einzug in die Gedanken und Unterhaltungen der Inselbewohner.

The Colony ist eine Geschichte von Gewalt und dem Kampf um Selbstbestimmung. Auf dieser Insel wird der Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt ausgetragen. Das Besondere an diesem Roman ist die Sprache. Sie ist poetisch, anregend, stark.

Magee, die ursprünglich Journalistin ist, sagt, die hat versucht in Romanform an eine Wahrheit heranzukommen, die man in der Reportage so nicht darstellen kann. Gewissermaßen eine existenzielle Wahrheit, welche die Natur einer Gesellschaft präsentiert. Ähnlich wie Joyce, vielleicht. Für mich schafft sie das insbesondere mit ihrer Landschaftsbeschreibung. Sie beschreibt die west-irische Landschaft so treffend, dass man sich dort hin versetzt fühlt und nachvollziehen kann unter welchen Umständen die Inselbewohner leben. Beim Lesen hat man das Gefühl, den Wind in Magees Sprache hören zu können und das Meer vor Augen zu haben.

Audrey Magee, The Colony, 256S, € 11,50

Und weil man irische Literatur nicht auf diese fünf Vertreter beschränken kann, finden Sie hier noch ein paar weitere Empfehlungen:


Mittwoch, 15. Februar 2023

Buchempfehlungen für Juristinnen und Juristen

Dostojewski – Schuld und Sühne

Ein mittelloser Student bringt eine alte Pfandleiherin und deren Schwester im Affekt um, woraufhin er sich nach einigem Überlegen, von Selbstvorwürfen und Sühneverlangen geplagt, der Polizei stellt. Dieser kurze Satz könnte den Inhalt des wohl bekanntesten Roman des großen und vielleicht bedeutendsten russischen Literaten, Fjodor Dostojewski, kurz und pointiert zusammenfassen.

Das tut er aber nicht. Er gibt allerhöchstens den groben Rahmen dieser meisterhaften Erzählung von menschlichen Abgründen und Verlangen, sowie grundlegenden Fragen nach Schuld, sowie Gut und Böse, wieder.

Der russische Schriftsteller schildert vor dem Hintergrund eines fiebrigen und lieblosen St. Petersburgs die Geschichte des verarmten und einsamen Studenten Rodion Raskolnikow, der sich selbst für einen großen Protagonisten der Weltgeschichte hält, welcher fälschlicherweise zur Armut verurteilt ist, und der Gesellschaft und seinen Mitmenschen immer mehr abhanden kommt. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt begegnet Raskolnikow der gerissenen Pfandleiherin Aljona Iwanowna. Da sie in seinem Weltbild zu unwerten Existenzen zählt, überfällt er Frau Iwanowna, erschlägt sie und ihre Schwester kaltblütig mit einem Beil und flieht. 

In den folgenden Tagen irrt Raskolnikow fieberhaft umher, verfolgt von Selbstvorwürfen und seinem eigenen Gewissen. Nachdem er der Polizei mehrfach nur knapp entronnen ist, stellt er sich schließlich und offenbart seine Tat.

Der Roman erkundet vielschichtig die menschliche Psyche und stellt Fragen nach individueller Schuld und Vorwerfbarkeit. Wann ist eine Handlung gut oder böse und vor allem: Kann sie einem Menschen vorgeworfen werden? Dostojewski zeichnet das Bild eines Menschen, der mit seinem eigenen ideellen Scheitern konfrontiert wird, dessen Weltbild zerbricht und Zuflucht in seinem Gewissen und einer schonungslosen Sühne sucht.

Eine absolute Empfehlung für jeden Juristen, der hinter einer Straftat nicht nur die Erfüllung von einigen Tatbestandsmerkmalen sieht, sondern einen Menschen mit seiner eigenen Geschichte.

Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne, 752 S., € 15



Ronen Steinke – Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“- Dies proklamiert zumindest der Art. 3 I des Deutschen Grundgesetz. Danach darf kein Mensch in Deutschland vor dem Gesetz ohne sachlichen Grund ungleich behandelt werden. Doch findet diese Verfassungsnorm Anwendung in den deutschen Gerichten, oder ist sie bloß Verfassungspoesie? 

Darf man Autor Ronen Steinke Glauben schenken, ist dieses Grundrecht nichts außer kitschiger Pathetik. Er ist der Meinung, das deutsche Recht begünstigte jene, die begütert sind, wohingegen es diejenigen benachteilige, die wenig oder nichts haben. Millionenschwere Wirtschaftsdelikte werden unter den Tisch gekehrt, während Schwarzfahren oder der Diebstahl eines Brotes streng und unnachgiebig bestraft würden.

Der deutsche Jurist stellt in einer packenden Reportage die systematische Ungerechtigkeit in unserem Strafsystem dar. Steinke recherchiert bei Staatsanwälten und Richtern, besucht Haftanstalten und spricht mit Anwälten und Verurteilten.

Unnachgiebig zeichnet Steinke ein messerscharfes Bild von einem angespannten Deutschland, in welchem sich soziale Ungleichheiten immer weiter verschärfen. Arm und Reich driften stetig weiter auseinander. Und diese Entwicklung spiegelt sich auch in dem Arbeits- und Strafverhalten der deutschen Justiz wieder, welche die sozialen Gegensätze vergrößert.

Ronen Steinke stellt dringende Forderungen an ein intoxikiertes und reformbedürftiges Strafsystem, die sich kein moderner Rechtswissenschaftler entgehen lassen sollte -ob Strafverteidiger oder Familienrechtler.

Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, 272 S., € 20

 

Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker

Stellen Sie sich vor Sie sind Kriminalkommissar und Ihr Mitarbeiter wird umgebracht. Zur Aufklärung des Falls setzen Sie auf Ihren besten Kollegen – der aber eigentlich der Mörder ist.


Das ist das Szenario, in welchem der Meister der kurzen und pointierten Sätze, Friedrich Dürrenmatt, einen abstrusen Kriminalfall voller Finesse schildert, welcher die eigen Moralvorstellungen und Überlegungen zu einer gerechten Strafe herausfordert.

Kriminalkommissar Hans Bärlach ist krank, als sein eigentlich bester Mitarbeiter, Ulrich Schmied, kaltblütig erschossen wird. Er setzt seinen kaltschnäuzigen Assistenten Tschanz auf die Fährte des Mörders, wobei Bärlach nicht weiß, dass Tschanz der Übeltäter ist. Vermeintlich zufällig lenkt der Mörder den Verdacht und die Ermittlungen auf den kriminellen Lobbyisten Gastmann, welcher der langjährige Rivale von dem Oberkommissar ist.

Im Zentrum der Handlung steht die Wette zwischen Kommissar Bärlach und dem Verbrecher Gastmann, der Bärlach bisher immer durchs Netz gegangen ist. Gastmann ist der Meinung, er würde niemals von Bärlach geschnappt werden und sich in Sicherheit wähnt.

Der Richter nimmt hier nicht die Rolle eines fairen und gerechten Juristen ein, welcher auf die reine Verurteilung des Täters abzielt. Viel mehr stellt Dürrenmatt Fragen nach Moral und den Grenzen zwischen Gut und Böse bei einer Tat. – Ein spannendender Kriminalroman mit Tiefgang, der wohl jeden Juristen packen wird.

Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker, 192 S., € 10

 

Sandra Frimmel – Kunst vor Gericht

Egal ob während der Schulzeit im Politikunterricht, bei der Strafrechtsvorlesung im Hörsaal, oder bei der finalen Arbeit als Strafverteidiger; der Begriff des Strafrechts wird fast immer nur mit Mord, Körperverletzung oder Diebstahl in Verbindung gebracht und behandelt.

Fast keiner spricht in diesem Zusammenhang von Kunst, zumal Kunst ja auch nicht strafbar sein kann – oder?

Oh doch, spätestens seit dem 21. Jahrhundert ist die strafrechtliche Verfolgung von Kunst keine Seltenheit mehr. Ob Gerichtsprozesse wegen Kunstfälschung oder Uhrheberecht, die Kunst ist im Strafrecht angekommen.

Dabei wird im Falle eines Gerichtsprozess die Öffentlichkeit zumeist nur über das endgültige Urteil informiert, und nicht über die dem Urteil zugrunde liegenden ästhetischen Debatten.

Das findet Autorin Sandra Frimmel schade, denn eben diese Debatten seien es doch, die Aufschluss darüber gäben, über welches Kunstverständnis eine Gesellschaft verfügt und auf welche Weise sie diese in einem juristischen Rahmen verhandelt.

Frimmels Buch versammelt Materialien über Gerichtsverfahren, die seit Ende des 19. Jahrhunderts gegen Künstler und Kuratoren geführt worden sind und geführt werden.  Die Prozesse verdeutlichen einen Wandel der juristischen Bewertung von Kunst und den tiefgehenden Wandel eines gesellschaftlichen Kunstverständnisses.

Frimmels Fokus liegt hierbei auf der Frage, wie eigentlich vor Gericht über Kunst debattiert wird.

Diese ästhetische Debatte ist wirklich ein Muss für jeden kunstinteressierten Rechtswissenschaftler.

Sandra Frimmel, Kunst vor Gericht, 525 S., € 48

 

Hans Litten – Anwalt gegen Hitler


Deutschland 1933 bis 1945 – Ein Land fest in den Krallen des vielleicht grausamsten Menschen der jemals gelebt hat. Gleichschaltung aller politischen, gesellschaftlichen und juristischen Institutionen. Hitler hat es geschafft jeglichen Widerstand und Ungehorsam in seinem Keim zu ersticken. Fast jeden zumindest.

Einer der wenigen, welcher sich Hitler bereitwillig in den Weg stellte war Hans Litten. Der deutsche Rechtsanwalt stellte im Jahre 1931 den „Schriftsteller“ Adolf Hitler als Zeuge für die eklatante Gewaltbereitschaft von SA und NSDAP vor dem Berliner Kriminalgericht zur Rede.

In einem spektakulären Gerichtsprozess versuchte Litten aufzuzeigen, dass der Terror der SA und NSADP als planmäßige Taktik der nationalsozialistischen Führung dazu benutzt wurde, die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik zu zerstören.

Litten verteidigte als „Anwalt des Proletariats“ in zahlreichen Prozessen straffällige Jugendliche, trat als Nebenkläger für die von faschistischen Schlägertrupps attackierten Kommunisten auf und legte sich mit der rechtslastigen Justiz der Weimarer Republik an.

Der mutige Anwalt, dessen Lebensgeschichte in Ostpreußen mit der jüdischen Jugendbewegung begann und schlussendlich im KZ endete, ist heute, weit über Deutschland hinaus ein politisch bekannter Anwalt, der sich kompromisslos und unbeugsam für seine Mandanten eingesetzt hat.

Die Biografie von Hans Litten ist ein kleiner Lichtblick in einer sonst so dunkeldüsteren Zeit der deutschen Justiz-Geschichte.

Hans Litten, Anwalt gegen Hitler, 384 S., € 28

Sebastian Schneider


Mittwoch, 18. Januar 2023

Aufbruch in eine neue Zeit. Die modischen 1910er- und 1920er-Jahre

Einführung in die Ausstellung von Stefanie Schütte-Schneider (Auszug)


Die Welt gerät ins Rennen, die Mode hält Schritt


“Eine Frau muss jederzeit in der Lage sein, im Laufen einen Bus zu erreichen.” Dieses Zitat ist eines meiner Lieblingszitate Coco Chanel. Und ich finde, dass es wie kaum ein anderes den Geist der modischen Jahre beschreibt, die Sie hier in dieser klug zusammengestellten Ausstellung sehen. Und nicht umsonst war es Chanel, die diesen Geist am nachhaltigsten geprägt hat.


Beschleunigung, Geschwindigkeit, Rasen, Wirbeln, Rennen. Die Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und die zunehmende Motorisierung - sogar schon ab Beginn desselben - brachten das Leben aller in einen neuen Takt.



Und der wurde von Avantgarde-Künstlerkreisen wie den italienischen Futuristen, als auch indirekt den frühen deutschen Expressionisten hymnisch gefeiert wurde. Wo wir heute von Entschleunigung und Slow Life träumen, galt damals Beschleunigung und der Fast Track. Und das schlug sich mit dem Auslaufen der Belle Epoque Anfang des 20. Jahrhunders auch mehr und mehr in der Mode nieder. Die alte Behäbigkeit ablegen und in eine neue Welt aufbrechen. Auto fahren, Bus fahren, laufen, tanzen, wirbeln: Vielleicht etwas karikaturesk übertrieben, aber doch recht realistisch sehen Sie dies auf den Zeichnungen der Charleston-Tänzer*innen von Georges Goursat aus den 1920er-Jahren - Rhythmus, Wirbeln, superschnelle Bewegungen zu Jazz-Musik. Das Pulsieren wird regelrecht spürbar. Goursat hat dies an Prominenten seiner Zeit dargestellt, und es packt uns heute noch. Vielleicht erinnern Sie sich hier an die Tanzszene aus Babylon Berlin. 


Aber: Wir haben hier auch eine Zeichnung von Georges Barbier, einem der wichtigsten Pariser Mode-Illustratoren jener Zeit: „La Folie du Jour, die veranschaulicht, dass die neue Beweglich- und Geschwindigkeit und auch der dazu notwendige Paradigmenwechsel in der weiblichen Garderobe nicht erst mit den Roaring Twenties begann. Die Zeichnung fertigte er für das Journal des Dames et des Modes zum Neujahr 1914 an - und sie zeigt eine verwunderte Matrone, sichtbar noch im einengenden Belle-Epoque, wenn nicht gar viktorianisch gekleidet, und die blickt durch ihr Lorgnon auf zwei fast fliegend tanzende junge Paare. In der neuesten Mode und voll beweglich. 



Ein neues Frauenbild - die freie Frau


In dem Eingangszitat von Chanel ist nicht nur die Geschwindigkeit untergebracht, sondern eigentlich dreht es sich vor allem um das Bild der neuen Frau. Die moderne Frau, die mit der Industrialisierung verstärkt in die Arbeitswelt eintritt, die alleine unterwegs ist, die Auto fährt - die endlich so auftreten konnte, wie es die Sufragetten schon Jahrzehnte vorher gefordert hatten. 


Ohne Korsett und in der Lage, mit Männern wenigstens etwas Schritt zu halten. Und auch das sehen wir deutlich auf den hier ausgestellten Bildern: Die schwindende Taille, die befreienden kürzeren Haare, die mehr und mehr bloßgelegten Beine und die leichten fließenden, bewegungsfreundlichen Stoffe. Und natürlich das Ende der ausladenden Kopfbedeckungen. Die Männermode im Übrigen, das sehen Sie auch - wenn Sie sich erneut die Bilder von Goursat - und dann gibt es noch einen Mann bei Robert Leonards Zeichnung „Vom anderen Ufer“ von 1922, hat sich in wenig geändert. 


Der Anzug in zurückgenommenen Farben und das dazu passende Hemd sind, das hat die Modehistorikerien Anne Hollander wunderbar in ihrem berühmten Buch „Sex and Suits“ dargestellt, ist seit dem 17. Jahrhundert bis heute eigentlich relativ, also wirklich relativ, unverändert geblieben. Die Frauen hingegen haben ihre Kleidungsgewohnheiten in den 1910er und 1920er-Jahren radikal geändert - passend zu einer sich stark verändernden Rolle in der Gesellschaft. Diente die Frau aus wohlhabenden Kreisen zuvor gleichsam als „Ausstellungsstück“ des Reichtums des Mannes (auch dazu gibt es ein tolles Modebuch: „Mode nach der Mode“ von Barbara Vinken), so legt sie diese Rolle insbesondere in den 1920er-Jahren - zumindest partiell - ab. Die arbeitende Frau braucht andere Kleidung. Der Kittel der Farbrikarbeiterin, die Uniform der Krankenschwester - all das hinterlässt Spuren. Frauen hatten im Ersten Weltkrieg Jobs angenommen, die sie vorher nie machen durften - nach dem Krieg wurden viele Frauen Büroangestellte und mussten nicht mehr heiraten.





Der Erste Weltkrieg bedeutete natürlich eine brutale Zäsur in der Aufbruchsstimmung der 1910er-Jahre. Dass durch ihn die Veränderungen in den gesellschaftlichen Rollen und damit auch in der Kleidung extrem beschleunigt wurden, das wurde dann nach Ende des Krieges deutlich: Die Mode der 1920er-Jahre gibt sich sehr viel radikaler ist als die des vorangegangenen Jahrzehnts. Wohl wichtigstes Symbol dafür: Der nun allgemein verbreitete Bubikopf - Abzeichen der neuen Frau, dem „Flapper“ (Louise Brooks, Clara Bow) - selbstbewusst, oft unverheiratet, klug, sexuell selbstbestimmt und eben einfach frei. Frauen streben nach den Rechten der Männer und damit auch nach den modischen Insignien, die deren Freiheit markieren. Kurze Haare, Beinfreiheit, ungeschnürte Kleidung.


Und manchmal auch gar keine Kleidung: Der nackte Körper wird zelebriert. Er steht zum einen für den Wunsch nach Natürlichkeit, frei von der Körperfeindlichkeit der früheren Epochen. Schauen Sie sich hier z.B. den weiblichen Halbakt von AndréDerain an, der einfach sehr unverstellt und authentisch wirkt. Schon im 19. Jahrhundert gab es ja eine Hinwendung zum Trainieren des Körpers (Turnvater Jahn, mystische Gymnastik) und dahin, dass er sich frei von Kleiderzwängen in der Natur bewegen konnte (Lebensreform). Der nackte Körper steht aber auch für das Aufbrechen sexueller Konventionen und für erotische Freiheit. In Paris feiert die Tänzerin Josephine Baker, bekleidet nur mit Federn und Perlenkette Triumphe, in Berlin ist dies die Nackttänzerin Anita Berber. Die Diva auf der Zeichnung von Erté übrigens scheint Josephine Baker nachgebildet zu sein.


Die Ausstellung ist bis zum 25.2.2023 zu sehen.