Mittwoch, 29. Juli 2020

Kanal- und BuchGeschichten. Das Buch in den sozialen Medien


Immer mehr werden klassische Rezensions- und Empfehlungsformate durch Online-Formate ergänzt und bereichert. Buchblogger, Instagram-Influencer und Booktuber vermitteln Bücher und Literatur in anderer Weise, aber nicht schlechter. Wir haben mit Ilke Sayan gesprochen:


Dahmke: Liebe Ilke, seit Corona finden viele Gespräche (über Bücher) online statt. Buchhandlungen bespielen teilweise mit sehr großem Aufwand die sozialen Medien und stellen in unterschiedlichen Formaten Bücher vor. Du bist seit 2015 mit Deinem Kanal BuchGeschichten auf YouTube. Wie bist Du damals auf die Idee gekommen, Bücher auf YouTube vorzustellen?

Sayan: Wie wohl bei den meisten lag es an dem Wunsch, sich über Bücher auszutauschen. In meinem Umfeld lasen die meisten nicht in dem Maße wie ich und ich wollte meine Freundschaften nicht länger mit meinen scheinbar endlosen Leseberichten strapazieren. Es war eine spontane Entscheidung, meine Leidenschaft stattdessen mit mir unbekannten Gleichgesinnten zu teilen. Die Online-Community war so herzlich, es machte mir so viel Spaß, dass ich mir bald darauf auch einen Instagram-Account einrichtete. Wieder einmal ohne lange darüber nachzudenken.

Dahmke: Wie bist Du auf den Namen BuchGeschichten gekommen?

Sayan: Anfangs hatte ich einen ganz anderen Kanalnamen im Kopf, an den ich mich mittlerweile nicht mehr erinnern kann. Er war allerdings schon vergeben. Da ich mein erstes Video schon gedreht hatte und alsbald veröffentlichen wollte, versuchte ich es mit anderen Namen, die mir gerade in den Sinn kamen. BuchGeschichten, mein 6. oder 7. Versuch, war noch verfügbar, so kam es zu dem Namen. Ich muss also gestehen, dass ich auch über den Kanalnamen nicht lange nachgedacht habe. Wichtig war mir lediglich, dass durch den Namen verständlich wird, dass es sich um einen deutschsprachigen Kanal über Bücher handelt.

Dahmke: Wie findet man als Literaturbegeisterter, (der gerne mal zum Klassiker greift,) überhaupt Booktuber auf der Plattform, die den eigenen „Literaturgeschmack“ treffen?


Sayan: Wenn man bedenkt, dass YouTube nach Google die zweitgrößte Suchmaschine im Internet ist, sollte es nicht mit sehr aufwändigen Recherchen verbunden sein… Am besten nutzt man die Suchleiste. Hat man einen Kanal gefunden, der einem zusagt, kann man sich auf der Kanalseite die Liste derjenigen aufrufen, die der/die BooktuberIn abonniert hat. Auf vielen Kanalseiten ist die Liste öffentlich einsehbar. Dort findet man häufig weitere BooktuberInnen mit ähnlichem Lesegeschmack. Auch durch die Video-Vorschläge von YouTube (neben/unter dem abgespielten Video) kann man fündig werden.

Dahmke: Apropos Literaturgeschmack: In deiner Kanalinfobox schreibst Du, Du liest alles gerne, hauptsächlich aber Gegenwartsliteratur, Klassiker und Graphic Novels. Diese Genres werden von Dir auch hauptsächlich besprochen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Persönliche Interessen nehme ich an...

Sayan: Ja, persönliche Vorlieben. Aber ich greife gerne auch mal zu Büchern aus anderen Genres – aus Neugier, zur Abwechslung oder um festzustellen, ob mir die Genres mittlerweile nicht doch zusagen.

Dahmke: Booktube soll keine Literaturkritik sein, sondern Begeisterung für Literatur vermitteln. Wie viel Kritik und wie viel Begeisterung braucht und verträgt eine Buchbesprechung auf YouTube Deiner Ansicht nach?

Sayan: Ich denke, auf YouTube ist in erster Linie Authentizität und Aufrichtigkeit wichtig.
Ob die Kritik sachlich oder vehement, die Begeisterung überschwänglich oder dezent geäußert wird, ob ausführlich oder aufs Wesentliche begrenzt, ist individuell und von BooktuberIn zu BooktuberIn unterschiedlich. So sollte es auch bleiben.

Dahmke: Was liest Du gerade? Und gibt es für Dich schon ein Halbjahreshighlight? Oder ein besonderes Buch, das Du in letzter Zeit gelesen hast…

Sayan: Ich lese gerade die Essay-Sammlung „Unter der Haut – Eine literarische Reise durch unseren Körper“ und „Schwere Zeiten“ von Charles Dickens.
Ich habe dieses Jahr einige großartige Bücher gelesen, darunter „Mond über Manhatten“ von Paul Auster, „Pique Dame“ von Alexander Puschkin, „Offene See“ von Benjamin Myers, „Die Straße“ von Ann Petry, „Rot und Schwarz“ von Stendhal, „Wo Licht ist“ von Sarah Moss. Ich könnte noch mehr aufzählen, aber ich denke, das reicht…

Dahmke: Großartige Bücher. „Pique Dame“ ist ja in der Reihe von Kat Menschik bei Galiani wunderbar illustriert herausgekommen. Und die Neuauflage von Petrys „Die Straße“ schockiert immer noch durch das ständig aktuelle Thema der Ungleichheit und Rassenfeindlichkeit in den USA. Wie lässt Du Dich eigentlich inspirieren? Liest Du viele Rezensionen, guckst Du Literatursendungen, sprichst Du mit Freunden und Bloggern etc. über Bücher, stöberst Du durch Verlagsvorschauen oder gehst Du in die Buchhandlung nebenan und tauschst Dich mit den Mitarbeitern aus? Oder ist es von allem ein bisschen?

Sayan: So ziemlich von allem ein bisschen. Natürlich erhalte ich auch von der Community, den ZuschauerInnen, viele gute Empfehlungen und höre gelegentlich Literatur-Podcasts.

Dahmke: Du sprichst nicht nur Literaturempfehlungen aus, es gibt auch andere Themenvideos auf Deinem Kanal z.B. Bücher nach Ländern, BuchGeschichten unterwegs (mit Gesprächen auf der Buchmesse u.a.). Ein umfangreiches und spannendes Programm! Wie haben sich die einzelnen Formate entwickelt?

Sayan: Manche Ideen hatte ich von Anfang an, manche ergaben sich mit der Zeit. Ich probiere gerne Neues aus, wie unter den Rubriken „Videos mit kleinen Extras“ und „BuchGeschichten unterwegs“. Solche Videos sind zeitaufwändiger, da ich meine Videos alleine drehe und bearbeite. Deswegen kann ich leider nicht so regelmäßig experimentieren wie ich mir wünschen würde. Aber ich habe eine Liste an Ideen und anderen Formaten, die ich gerne noch umsetzen möchte und bin gespannt, wie sie von den ZuschauerInnen aufgenommen werden.

Dahmke: Vielen Dank, liebe Ilke, für deine Zeit und die tollen Buchempfehlungen. 

Weiterführende Links:

Gewinnerin Buchblog-Award 2018:

Samstag, 4. Juli 2020

Über die erste Liebe und Stäbchen, Kugeln und Häkchen

Auch wenn es nicht um Corona-Viren geht, scheint Ludger Weß das Buch der Stunde geschrieben zu haben: den Bakterienatlas „Winzig, zäh und zahlreich“ (Naturkunden, Bd. 62, Matthes & Seitz, 280 Seiten, 25 Euro). Als der unsichtbare Feind galten lange Zeit auch Bakterien. Aber Bakterien sind nicht nur gefährliche Krankheitserreger. Seit Urbeginn bevölkern sie die Erde und tun seither viel nützliche Arbeit. Nach der neuesten Forschung haben sie sogar ein Immunsystem entwickelt, um sich vor feindlichen Viren zu schützen!


In 50 Porträts taucht man in dieses wuselige Leben ein und wird nach der Lektüre um einiges aufgeklärter die Welt sehen. Marcus Dahmke hat mit Ludger Weß gesprochen



Dahmke: Lieber Herr Dr. Weß, bereits im Alter von sieben Jahren haben Sie sich das erste Mal verliebt, schreiben Sie in ihrem „Bakterienatlas“, der im Frühjahr in der Naturkunden-Reihe bei Matthes und Seitz erschienen ist. Diese Liebe scheint bis jetzt anzuhalten. Was ist das Besondere an ihrer Beziehung zu Stäbchen, Kugeln und Häkchen?

Weß: Am Beginn stand die Faszination, dass es da im Wassertropfen eine Welt gab, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Dazu kam die Erkenntnis, dass diese verborgene Welt nicht nur im Wassertropfen, sondern überall zu finden ist. Wasserflöhe, Pantoffel- und Rädertierchen kommen nur in Gewässern vor, Bakterien aber überall. Und sie haben erstaunliche Fähigkeiten und lassen sich leicht züchten. Aufregend erschien mir auch, dass immer wieder neue Arten entdeckt wurden. Die Kontinente und Urwälder dieser Welt waren ja schon alle bis ins Kleinste kartiert, aber hier gab und gibt es noch unzählige weiße Flecken.

Dahmke: Wir scheinen beide in unserer Kindheit chronisch „arm“ gewesen zu sein. Ich habe mein Taschengeld für Bücher - also für Buchstaben, Punkte und Kommata - ausgegeben, Sie für Petrischalen, Reagenzgläser, Chemikalien und Co, um Bakterien zu kultivieren. Wie „reich“ sind Sie damit geworden in diese phantastische Welt einzutauchen?

Weß: Ich habe durchaus Geld für Bücher ausgegeben (viel aber auch in der Stadtbücherei ausgeliehen) und viel gelesen: von Klassikern wie Karl May, Mark Twain, Daniel Defoe, Jules Verne und John Steinbeck („Cannery Row“!) über populärwissenschaftliche Literatur von Vitus B. Dröscher, Heinz Haber oder aus dem Kosmos-Verlag bis zu ausgesprochener Fachliteratur zum Thema Genetik oder Bakteriologie. Zusammen haben mir Bücher und Gerätschaften neue Welten erschlossen und faszinierende Einblicke in die Natur ermöglicht – mehr Reichtum ist kaum vorstellbar.

Dahmke: Wir sind umgeben von Bakterien. Sie waren lange vor dem Menschen da und werden höchstwahrscheinlich die letzten sein, die auch in unwirtlichen Gegenden noch überleben können. Was haben wir unseren unsichtbaren Freunden im Laufe unserer (gemeinsamen) Zeit zu verdanken? Warum sind sie von globaler Bedeutung?

Weß: Bakterien sind unscheinbar, aber weil es so viele sind, haben sie einen enormen Einfluss auf die Umwelt. Die Gesamtmasse aller Lebewesen auf der Erde beträgt 550 Milliarden Tonnen, davon entfallen 70 auf Bakterien – Tiere und Menschen zusammen machen nur 2 Milliarden Tonnen aus. Die Erdgeschichte zeigt z.B., dass Bakterien für eine komplette Umwandlung der Erdatmosphäre gesorgt haben – die „große Sauerstoffkatastrophe“ war eine Katastrophe für die damals existierenden Lebewesen, aber die Voraussetzung dafür, dass es Tiere und uns Menschen gibt. Bakterien spielen eine große Rolle bei der Speicherung von Kohlendioxid, den Kreislauf von Stickstoff und Kohlenstoff, als Partner von Pflanzen und Tieren und sind daher von globaler Bedeutung. Ohne besseres Wissen können wir viele Vorgänge, auch den Klimawandel, nicht verstehen.

Dahmke: Nicht nur Freund, sondern auch Feind. Nicht Bakterien, sondern Viren sind momentan im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Warum sollte man sich in Corona-Zeiten Gedanken über Bakterien machen? Sie schreiben, Bakterien haben ein Immunsystem und können sich gegen Viren wehren. Auch gegen Corona-Viren?

Weß: COVID19 ist eine Viruserkrankung und Viren kann man nicht mit Antibiotika bekämpfen. Aber: Fast alle Patienten, die wegen der Erkrankung stationär aufgenommen werden und Atemprobleme haben, erhalten prophylaktisch Antibiotika, um zu verhindern, dass die geschwächte Lunge und die angegriffenen Atemwege zusätzlich von Bakterien befallen werden. Das birgt zweierlei Probleme: Erstens steigt die Nachfrage nach Antibiotika, wobei die Gefahr besteht, dass die beiden wichtigsten Herstellerländer – Indien und China – nicht oder nicht ausreichend liefern können, so dass auch für andere Erkrankungen nicht genügend zur Verfügung stehen. Zweitens erhöht der präventive Einsatz von Antibiotika die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch multiresistente bakterielle Krankheitserreger entstehen, die sich vor allem in den Krankenhäusern verbreiten. Die Krankheit zeigt uns ein weiteres Mal, dass wir unseren Umgang mit Antibiotika überdenken und Alternativen entwickeln müssen.
Bakterien werden von Coronaviren nicht befallen. Aber weil wir das bakterielle Immunsystem immer besser verstehen, ergeben sich daraus Ansatzpunkte für neue Behandlungsstrategien. Derzeit wird daran geforscht, die Tricks des bakteriellen Immunsystems zur Herstellung von Medikamenten gegen Viruserkrankungen zu entwickeln, nicht nur gegen das neue Coronavirus. Außerdem hat uns die Entdeckung das so genannte Genome Editing ermöglicht, ein mächtiges Werkzeug für die Molekularbiologie, ohne das wir bei der Erforschung des neuen Virus nicht so schnell vorangekommen wären.

Dahmke: Am 5. April 2018 war Judith Schalansky mit Andreas Rötzer zusammen bei Felix Jud, um die Naturkunden-Reihe vorzustellen. Was hat dieses Datum mit dem „Bakterienatlas“ zu tun?

Weß: Ich bin an dem Abend mit meiner Frau in die Buchhandlung gekommen, weil uns die Reihe und das Konzept interessierten; ich hatte schon zwei oder drei Bücher aus der Reihe gekauft und gelesen und auch meiner Frau gefielen die Bände sehr. Meine Gedanken sind zwischendurch etwas abgeschweift und ich fragte mich, ob es wohl in der Reihe Bücher zu Mikroorganismen gibt. Im Prospekt fand ich dazu nichts. So habe ich anschließend Judith Schalansky angesprochen und sie gefragt, ob in den Naturkunden Platz für Lebewesen ist, die man nicht mit bloßem Auge sehen kann. Sie fragte zurück, welche Lebewesen ich denn da im Sinn hätte und ich nannte die Bakterien. Sie wollte wissen, was sich zu Bakterien erzählen ließe und wir führten ein kurzes Gespräch. Sie erkundigte sich abschließend nach meiner Expertise und machte den Vorschlag, ich solle ihr ein Exposé schicken. Also habe ich mich am nächsten Wochenende hingesetzt und eins geschrieben und abgeschickt. Die Zusage kam sehr schnell, verbunden mit der Idee, einen Atlas zu machen. Dann folgte ein Treffen mit Matthias Rötzer und schließlich auch mit Falk Nordmann.

Dahmke: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Verlag, Frau Schalansky und Falk Nordmann (der den Band illustriert hat) gestaltet?

Weß: Die Zusammenarbeit lief hervorragend; ich habe Falk Nordmann Fotos zu jedem Bakterium geschickt und Rückmeldungen zu den jeweiligen Zeichnungen. Das war aber sehr problemlos, weil er sehr gut verstanden hat, worauf es bei den Bakterien ankommt. Das einzige Problem waren die zwei oder drei, von denen nur bekannt ist, dass es sie gibt und welche Fähigkeiten sie haben. So gibt es keine Fotos von ihnen. Da hat er schnell eine gute Lösung gefunden.

Dahmke: In Ihrem Nachwort schreiben Sie, das Thema verlange nach einer Fortsetzung. Ich bin schon gespannt!

Ich möchte mich ganz herzlich bei Ludger Weß für dieses spannende Interview bedanken.
Einige signierte Exemplare vom „Bakterienatlas“ sind noch bei uns käuflich zu erwerben.