Heute, am 18. Februar 2021, erscheint „Die Erfindung des Ungehorsams", das neue Buch von Martina Clavadetscher im Unionsverlag. Marcus Dahmke hat mit der Autorin und Dramatikerin gesprochen.
Zum Inhalt: Anfang des 19. Jahrhunderts strebt die Wissenschaftlerin Ada in Europa nach Anerkennung in einer von Männern dominierten Welt. Jahrhunderte später kontrolliert die Arbeiterin Ling die weiblichen Körper einer Sexpuppenfabrik in China, die als willenlose künstliche Wesen ohne Bewusstsein an männliche Kunden verkauft werden, auf ihre Makellosigkeit. In Manhattan entkommt Iris nicht den ständig gleichen Abläufen eines öden Lebens, das nur mit der Sehnsucht nach einem „draußen“ erträglich bleibt.
Drei Frauen, drei Geschichten, ein
Kern.
Martina Clavadetscher erzählt in „Die Erfindung des Ungehorsams“ von Selbst- und Fremdbestimmung, Körperlichkeit, gesellschaftlichen und sozialen Schranken, Spielarten der Liebe und über die befreiende Kraft des Erzählens und des Gehört-werdens.
Copyright: Janine Schranz |
Dahmke: Liebe Frau Clavadetscher, ist es richtig, dass eine Fotoserie Sie zu Ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ inspiriert hat? Was für eine Serie war das? Und was hat Sie an dieser so fasziniert?
Clavadetscher: Ja, es war eine Bilderserie des Fotografen Aleksander Plavevski, der für Keystone in Shenzhen eine Sexpuppenfabrik dokumentiert hat. Die Bilder zeigen den Herstellungsvorgang dieser Puppen, die Metallskelette, die Silikonkörper ohne Kopf und wie sie schließlich für den Versand in Kisten verpackt werden. Diese eindrücklichen Bilder haben sich in meinem Kopf festgekrallt, dieser seltsam anmaßende Schöpfungsakt – diese Illusion, diese Imitation, dieses "So-tun-als-ob", das damit verbunden wird. Ich wusste sofort, ich muss etwas darüber erzählen und ich trug diese Bilder eine ganze Weile mit mir herum, denn ich wusste auch, dass diese Welt alleine "zu wenig" war, ich wollte sie verknüpfen mit anderen Zeiten, anderen Welten.
Dahmke: In solch einer Sexpuppenfabrik arbeitet eine von drei Protagonistinnen Ihres Romans: Ling, die als eine Art Vorarbeiterin die Makellosigkeit der Frauenkörper kontrolliert, die von dieser männergeführten Fabrik für andere Männer produziert werden. Ein sehr starkes, aussagekräftiges Bild meiner Meinung nach. Was hat Sie an künstlich geschaffenen Wesen, die hier ja zunächst nicht mehr als willenlose in ihren Körpern gefangenen Puppen sind, interessiert?
Clavadetscher: Einerseits der bereits erwähnte Schöpfungsakt, der hier serienmäßig geschieht. Dabei entstehen seltsame "Wunschfrauen", grotesk in ihrer Körperlichkeit und an jedes Bedürfnis individuell angepasst. Andererseits das Puppenmotiv, das in der Literatur eine lange Tradition hat. Puppen sind etwas sehr Fiktionales, Erzählendes; sie leben von der Behauptung, der Imitation der Realität und sind Projektionsflächen. Oder besser: Sie sind Hüllen, die mit einer jeweiligen Phantasie gefüllt werden können, um so die Bedürfnisse der Besitzer und Benutzerinnen zu befriedigen. Dabei war für mich der sexuelle Aspekt nur am Rande von Interesse, viel mehr wollte ich wissen, was diese künstlichen Wesen über die realen Menschen aussagen, die sie erschaffen oder besitzen. Weshalb? Sind reale Menschen zu kompliziert, zu emanzipiert, also kreiert und kauft man ein neues künstliches Menschenbild, das genau so ist, wie man es will? Und die Frage, die dazwischen liegt: Was tatsächlich unterscheidet biologische Menschen von programmierten, künstlichen Wesen?
Dahmke: Eine weitere Protagonistin, Ada, versucht sich als Frau des 19. Jahrhunderts in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten. Mit was für Schwierigkeiten hatte sie als Frau in den Wissenschaften bei der zumindest theoretischen Entwicklung der ersten Denkmaschine zu kämpfen?
Clavadetscher: Ada Augusta Lovelace lebte in einer viktorianischen Zeit, in der Frauen als gesellschaftliche Figuren zwar respektiert wurden, aber eine klar begrenzte Rolle zu erfüllen hatten, eine Rolle, die stark durch Verbote geprägt war: Kein Zugang zu Universitäten, keine geistige, intellektuelle Karriere, keine Ausschweifungen, keine Lust, überhaupt keine Körperlichkeit - es schien, als ob auch diese Frauen gezwungen waren, in einem künstlichen Körper, in einer sauberen und für die Öffentlichkeit herausgeputzten Hülle dahinzuvegetieren. Und zwar still, angepasst. Auch hier wieder: Abziehbilder. Bis auf einige Ausnahmen natürlich. Ada Lovelace wurden im Privaten mathematische Studien erlaubt, lerne Charles Babbage kennen, der die Differenzmaschine gebaut hatte, und kämpfte mit ihren Schriften und Visionen nicht nur gegen die damaligen gesellschaftliche Zwänge, sondern auch gegen eine sehr dominante Mutter, die Ada ein Leben lang steuerte und - wenn man so will - auf perfide Weise programmierte.
Dahmke: Die dritte im Bunde, Iris „wie die Blume“, lebt zurückgezogen in ihrem Penthouse in Manhattan, bekommt immer nur Besuch von der gleichen Frauengruppe, obwohl sie liebend gerne ihre Schwestern empfangen würde, ist gefangen in immer gleichen Abläufen und erzählt Abend für Abend Geschichten von starken Frauen. Kann man sagen, dass alle Protagonistinnen, Gefangene sind; im Körper, in gesellschaftlich-historischen Vorstellungen, Rollenzuschreibungen etc.? Und gibt es Hoffnung diesen Hierarchien und Grenzziehungen zu entkommen?
Clavadetscher: Die drei Hauptfiguren sind – wie wir alle – in eine Art
strukturellen Triangel eingespannt: Gesellschaft, Körper und Intelligenz bzw. Geist
im weitesten Sinne. Also das Nicht-Ich, das körperliche Ich und das geistige
Ich. Und um es in Computersprache auszudrücken: Diese drei Seiten programmieren
sich gegenseitig. Aber die Kräfteverhältnisse sind ungleich verteilt, da die
größte Kraft in der Programmierung des Ichs durch die Gesellschaft liegt; Rollenzuschreibung,
traditionelle Vorstellungen, genau wie Sie sagen. Die drei Figuren haben sich
davon zu befreien, jede auf ihre Weise.
Und ja, es gibt diese Hoffnung auf ein Entkommen, indem wir den Programmierungsprozess umdrehen - wir sollen nicht mehr einheitlich von Außen programmiert werden, sondern aus unserem diversen Inneren nach Außen mitgestalten. Im Roman ist das Erzählen der Inbegriff der Befreiung. Selbstermächtigung. Selbstbestimmung. Ein Narrativ, der aus dem Kern kommt.
Dahmke: Der Roman spielt mit Motiven und Gestalten aus unterschiedlichen Epochen (E.T.A. Hoffmanns Menschenpuppe Olimpia aus „Der Sandmann“ muss natürlich erwähnt werden), mit Fragestellungen feministischer Literatur, mit Motiven aus Science-Fiction-Romanen und und und. Wie umfangreich haben Sie recherchiert und wie kräftezehrend war es, den richtigen Stil, die richtige Sprache für „Die Erfindung des Ungehorsams“ zu finden? Gab es einen Punkt im Werkprozess, an dem Sie wussten, genau so muss die Geschichte erzählt werden?
Clavadetscher: Dem Roman liegt tatsächlich eine sehr umfangreiche Recherche
zugrunde. Aber gerade die Vielseitigkeit der Recherche hat enorme Freude
gemacht, da sie mich von Freizeitparks, cineastischen Motiven, mechanischen
Automaten des 19. Jahrhunderts über die Bitteresche, Urban Legends bis hin zu Künstlicher
Intelligenz und Luigi Galvani führten. All diese Einflüsse in einer Geschichte
zu vereinen, war eine schöne, aber knifflige Arbeit – und sie hat mir deutlich bestätigt,
dass alles irgendwie zusammenhängt. Die Welt, die Geschichte ist ein Netz aus
Dingen, die sich gegenseitig bedingen. Genau wie die drei Teile des Romans – die
drei Welten, drei Zeiten, drei Frauen. Es galt, diese zu verflechten und ihnen jeweils
eine eigenständige Sprachlichkeit zu geben.
Lange habe ich gegrübelt, um dafür den passenden Weg zu finden, bis mir Mary Shelleys Frankenstein die einfache Antwort lieferte: Gerade weil sich die drei Teile bedingen, muss die Geschichte verschachtelt sein. Es geht um Herkunft. Die Erzählung bohrt nach einem Kern. Mein Roman ist eine Frucht mit Haut, Fleisch und Kern. Oder noch schöner: Eine Matrjoschka.
Dahmke: Vielen Dank, liebe Frau Clavadetscher, für dieses vielseitige Gespräch!
Clavadetscher: Ich danke!
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