Die aktuelle Ausstellung im Bucerius Kunst Forum haben wir
bei Felix Jud zum Anlass genommen, ein Schaufenster zum Thema „Antike“ zu
gestalten und auf Leseempfehlungen dieses vielfältigen und überraschend
relevanten Gebietes aufmerksam zu machen. Dabei wollten wir uns nicht
ausschließlich auf die römische Antike zu Zeiten des Augustus beschränken,
sondern haben die Auswahl auf ein Gesamtkompendium antiker Literatur,
griechisch wie römisch, erweitert, sodass verschiedene Zeitspannen und
Themenbereiche abgedeckt werden und großartige (nicht nur antike) Autorinnen
und Autoren einen Platz in unserem Schaufenster finden. Zwischen antiker
Literatur und moderner Aufarbeitung antiker Themen und Sagen ist also alles
dabei. Da ich als Praktikant das Schaufenster gestalte, habe ich natürlich die
Chance genutzt, meine Favoriten antiker Literatur auszuwählen und das ein oder
andere persönliche Lieblingsbuch mit hineinzuschmuggeln (auch wenn es
vielleicht gar nichts mit der Antike zu tun hat). In dieser Liste möchte ich zu
einigen im Fenster vertretenen Büchern knappe Empfehlungen teilen.
Die Odyssee
von Homer
Die Odyssee ist ein Klassiker, wenn nicht sogar der
Klassiker der Klassiker, den man gelesen haben muss. Denn abgesehen davon, dass
der ungeheure Einfluss der Odyssee auf spätere Kultur und Literatur bis heute
fortbesteht, ist sie in erster Linie eine fantastische (und oft auch
humorvolle) Geschichte, die man auch ohne Tonnen von Sekundärliteratur und
Interpretation einfach genießen kann (natürlich in der Übersetzung von Wolfgang
Schadewaldt). Von Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, schien mir letztere
immer die zugänglichere, aber jeder sei angehalten, sich beide Geschichten zu
Gemüte zu führen, es lohnt sich.
Das Lied des Achill
von Madeline Miller
„Das Lied des Achill“ von Madeline Miller ist ein Roman
über Homosexualität. So könnte man diese moderne Aufarbeitung des trojanischen
Sagenkreises herunterbrechen. Bei genauem Lesen stellt sich diese Geschichte
jedoch als so viel mehr heraus. Miller integriert über die Geschichte von
Patroklos und Achill moderne Themen elegant und durch Emotionen sowie
wunderschöne Erzählungen in den Handlungsverlauf und schafft so eine kohärente
Interpretation der Antike, die aufklärt über damalige Konzepte von Liebe und
Ehre, zwischen Männern wie auch Frauen. Dabei wird das Buch nie unsachlich,
unglaubwürdig oder historisch/mythologisch inakkurat. Miller füllt Lücken im
Mythos mit sinnvollen Ergänzungen und somit gleichzeitig die Welt ihres Romans
mit Leben. Viele Leser werden wissen, wie die Geschichte ausgeht, was den
Charakteren zustoßen wird, denn die Handlung ist Jahrtausende alt, hunderte
Male erzählt. Die aufmerksame Leserin oder der aufmerksame Leser, der/dem der
trojanische Sagenkreis bekannt ist, wird die vielen eingestreuten Vorwegnahmen
des Endes mit Belustigung und Trauer gleichermaßen aufnehmen. Indem nun der
Fokus auf die dort befindlichen Persönlichkeiten gelegt und eine moderne
Geschichte über nur allzu menschliche Anforderungen und Bedürfnisse wie Liebe
konstruiert wird, offenbart sich die tiefere Themenvielfalt. Denn eigentlich
ist „Das Lied des Achill“ gar nicht primär ein Buch über Homosexualität,
dieser Teil ist selbstverständlich. Viel tiefgreifender geht der Konflikt,
welche Rolle eine Beziehung, welche Rolle die Liebe in Korrelation mit anderen
Prioritäten wie Ehre und Ruhm einnimmt, und wie daraus Probleme entstehen
können. Achill als Person wird zwar stark gegenüber seiner traditionellen
Darstellung romantisiert, umso mehr schmerzt jedoch so die Beschreibung seines
Trotzes und Zorns im Streit mit Agamemnon, hier fast charakterlicher Verfall im
Kontrast zur oftmals idyllischen Vorgeschichte. „The Song of Achilles“ ist
zutiefst menschlich und modern, ohne dabei auf Kosten seines antiken Settings
Defizite entstehen zu lassen, und hat mich mehrmals zu Tränen gerührt.
Ich bin Circe
von Madeline Miller
Wie schon im „Lied des Achill“ habe ich selten eine bessere
Aufarbeitung antiker Epen gelesen als „Ich bin Circe“. Madeline Miller schafft
es, die Geschichte von Circe aus überaus moderner, feministischer Perspektive
zu erzählen, ohne dabei Ungenauigkeit oder gar Unglaubwürdigkeit zu erleiden.
Der Roman ist emotional, persönlich und wahnsinnig fesselnd, Miller ergänzt an
den richtigen Stellen die vorhandenen Mythen durch innere Charaktervorgänge.
Eine Kenntnis der Odyssee und des generellen Sagenkreises bereichert die
Lektüre enorm, sollte jedoch keinesfalls Voraussetzung sein.
Link zum Buch
Faust 1 und 2
von Johann Wolfgang von Goethe
Diese beiden Werke gehören einfach in eine Liste wichtiger
Bücher, auch wenn nur der zweite Teil von Goethes „Faust“ sich wirklich
intensiv mit der Antike befasst, indem die Figur der Helena in den Faust-Kosmos
integriert wird. Also wollte ich die Chance nicht versäumen, dieses unfassbar
wichtige und beeindruckende Werk (mal wieder) etwas in die Aufmerksamkeit des
Geschäfts zu rücken. Viele kennen Faust nur als nervige Schullektüre und
blocken beim Lesen unter Zwang ab. Schade, denn man nimmt deutlich mehr mit,
sprachlich und inhaltlich, wenn man sich (freiwillig) auf die Lektüre einlässt.
Epigramme
von Martial
Bei antiker Literatur denkt man meist an bewegende, große
Themen, Ernsthaftigkeit, Heldentum und Philosophie. Martial stellt – in
trotzdem sprachgewandter Weise – einen Gegensatz zur Erwartung dar. In seinen
kurzen Epigrammen vermittelt der Dichter die profansten und derbsten Witze,
Beleidigungen und Feststellungen. Perfekt zum an einer zufälligen Stelle Aufschlagen
und sich für die unfassbare Absurdität begeistern.
Gorgias
von Platon
Dann doch noch ein ernsteres Werk antiker Literatur,
grundlegend für platonische Philosophie. Im Gorgias, einem klassischen
sokratischen Dialogs Platons, legt dieser Grundsteine der Moral und des
richtigen Lebenswandels fest und argumentiert für diese im Kontext intensiver
Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Erstaunlich relevante Themen wie das
Gemeinwohl, Egoismus und das Recht werden intensiv diskutiert und auch
erstaunlich starke Situationskomik von Seiten des Sokrates lockert das Ganze
auf und nimmt etwas Anstrengung heraus. Als kurze und bereichernde Lektüre sehr
zu empfehlen.
Die Gesamtwerke von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft
Passend zur Zeit (wenn man um den Oktober herum
Schauerliteratur sucht) empfiehlt es sich, statt immer nur zu Stephen King oder
modernen Krimis auch mal zu den Klassikern der Horrorliteratur zu greifen, dem
großen Meister Poe und dem (fast genauso) großen Meister Howard Phillips
Lovecraft. Beide bieten eine wunderbar antiquierte Wortfülle, die man heute so
kaum noch findet, und machen durch eine alte Ausdrucksweise die Atmosphäre in
ihren Erzählungen und Gedichten komplett. Auf dem Gebiet des Horrors bleiben
beide für mich unübertroffen, statt billigen Klischees und bereits hundertmal
durchgekauten immer wieder gleichen Monstern, findet man bei Poe und Lovecraft
die Wurzel des Horrors, der menschlichen Angst. Poes gotische, klassische
Erzählungen und Gedichte wie „Der Rabe“ oder „Die Maske des roten Todes“ und
Lovecrafts trotz seiner mehr als zweifelhaften Persönlichkeit verstörende und
andersweltliche Sagenwelt kosmischen Horrors kombiniert mit einer monströsen
Sprachgewalt sind, gerade jetzt, atmosphärische Meisterwerke. Wenn möglich, auf
Englisch zu genießen!
Die Stadt der Träumenden Bücher
von Walter Moers
Walter Moers war immer mein Lieblingsautor, und auch heute noch
ist er für mich einer der Besten. Das heißt nicht, dass ich ihm die höchste
literarische Qualität, die Verarbeitung der wichtigsten gesellschaftlichen
Themen, die beste erzählerische Fähigkeit zuschreibe, nein, das kann und will
ich sicher nicht beurteilen. Walter Moers ist jedoch der Autor, den ich mit der
größten Freude lese. Selten habe ich mich von einem Buch mehr unterhalten
gefühlt, selten habe ich über eventuelle Fehler mehr hinwegsehen können, als es
bei „Die Stadt der träumenden Bücher“ sowie den meisten anderen fantastischen
Zamonien-Romanen von Moers der Fall ist. Ich kann dieses Buch, diese Bücher,
immer und immer wieder lesen, ohne dass es langweilig wird, es ist wie ein
gutes Lied, das man sich in Dauerschleife anhören kann, ohne dessen müde zu
werden. Walter Moers schafft es, eine humoristische Fantasywelt mit starker
Erzählkunst und literarischen Anspielungen en masse zu verknüpfen, sodass das
Lesen anderer Literatur den Genuss an Moers‘ Büchern signifikant verstärkt. Ich
bin oft zu Moers zurückgekehrt, nur um in seinen Büchern Poe, Lovecraft oder
Goethe wiederzufinden. Moers ist ohne falschen Elitarismus zugänglich und
bietet unglaublich viel.
Moritz Ossmann