Mittwoch, 26. Oktober 2022

Empfehlungen aus Antike, Gegenwart und ihrer Kombination

Die aktuelle Ausstellung im Bucerius Kunst Forum haben wir bei Felix Jud zum Anlass genommen, ein Schaufenster zum Thema „Antike“ zu gestalten und auf Leseempfehlungen dieses vielfältigen und überraschend relevanten Gebietes aufmerksam zu machen. Dabei wollten wir uns nicht ausschließlich auf die römische Antike zu Zeiten des Augustus beschränken, sondern haben die Auswahl auf ein Gesamtkompendium antiker Literatur, griechisch wie römisch, erweitert, sodass verschiedene Zeitspannen und Themenbereiche abgedeckt werden und großartige (nicht nur antike) Autorinnen und Autoren einen Platz in unserem Schaufenster finden. Zwischen antiker Literatur und moderner Aufarbeitung antiker Themen und Sagen ist also alles dabei. Da ich als Praktikant das Schaufenster gestalte, habe ich natürlich die Chance genutzt, meine Favoriten antiker Literatur auszuwählen und das ein oder andere persönliche Lieblingsbuch mit hineinzuschmuggeln (auch wenn es vielleicht gar nichts mit der Antike zu tun hat). In dieser Liste möchte ich zu einigen im Fenster vertretenen Büchern knappe Empfehlungen teilen.


Die Odyssee
von Homer

Die Odyssee ist ein Klassiker, wenn nicht sogar der Klassiker der Klassiker, den man gelesen haben muss. Denn abgesehen davon, dass der ungeheure Einfluss der Odyssee auf spätere Kultur und Literatur bis heute fortbesteht, ist sie in erster Linie eine fantastische (und oft auch humorvolle) Geschichte, die man auch ohne Tonnen von Sekundärliteratur und Interpretation einfach genießen kann (natürlich in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt). Von Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, schien mir letztere immer die zugänglichere, aber jeder sei angehalten, sich beide Geschichten zu Gemüte zu führen, es lohnt sich.



Das Lied des Achill
von Madeline Miller

„Das Lied des Achill“ von Madeline Miller ist ein Roman über Homosexualität. So könnte man diese moderne Aufarbeitung des trojanischen Sagenkreises herunterbrechen. Bei genauem Lesen stellt sich diese Geschichte jedoch als so viel mehr heraus. Miller integriert über die Geschichte von Patroklos und Achill moderne Themen elegant und durch Emotionen sowie wunderschöne Erzählungen in den Handlungsverlauf und schafft so eine kohärente Interpretation der Antike, die aufklärt über damalige Konzepte von Liebe und Ehre, zwischen Männern wie auch Frauen. Dabei wird das Buch nie unsachlich, unglaubwürdig oder historisch/mythologisch inakkurat. Miller füllt Lücken im Mythos mit sinnvollen Ergänzungen und somit gleichzeitig die Welt ihres Romans mit Leben. Viele Leser werden wissen, wie die Geschichte ausgeht, was den Charakteren zustoßen wird, denn die Handlung ist Jahrtausende alt, hunderte Male erzählt. Die aufmerksame Leserin oder der aufmerksame Leser, der/dem der trojanische Sagenkreis bekannt ist, wird die vielen eingestreuten Vorwegnahmen des Endes mit Belustigung und Trauer gleichermaßen aufnehmen. Indem nun der Fokus auf die dort befindlichen Persönlichkeiten gelegt und eine moderne Geschichte über nur allzu menschliche Anforderungen und Bedürfnisse wie Liebe konstruiert wird, offenbart sich die tiefere Themenvielfalt. Denn eigentlich ist „Das Lied des Achill“ gar nicht primär ein Buch über Homosexualität, dieser Teil ist selbstverständlich. Viel tiefgreifender geht der Konflikt, welche Rolle eine Beziehung, welche Rolle die Liebe in Korrelation mit anderen Prioritäten wie Ehre und Ruhm einnimmt, und wie daraus Probleme entstehen können. Achill als Person wird zwar stark gegenüber seiner traditionellen Darstellung romantisiert, umso mehr schmerzt jedoch so die Beschreibung seines Trotzes und Zorns im Streit mit Agamemnon, hier fast charakterlicher Verfall im Kontrast zur oftmals idyllischen Vorgeschichte. „The Song of Achilles“ ist zutiefst menschlich und modern, ohne dabei auf Kosten seines antiken Settings Defizite entstehen zu lassen, und hat mich mehrmals zu Tränen gerührt.


Ich bin Circe
von Madeline Miller

Wie schon im „Lied des Achill“ habe ich selten eine bessere Aufarbeitung antiker Epen gelesen als „Ich bin Circe“. Madeline Miller schafft es, die Geschichte von Circe aus überaus moderner, feministischer Perspektive zu erzählen, ohne dabei Ungenauigkeit oder gar Unglaubwürdigkeit zu erleiden. Der Roman ist emotional, persönlich und wahnsinnig fesselnd, Miller ergänzt an den richtigen Stellen die vorhandenen Mythen durch innere Charaktervorgänge. Eine Kenntnis der Odyssee und des generellen Sagenkreises bereichert die Lektüre enorm, sollte jedoch keinesfalls Voraussetzung sein.

Link zum Buch



Faust 1 und 2
von Johann Wolfgang von Goethe  

Diese beiden Werke gehören einfach in eine Liste wichtiger Bücher, auch wenn nur der zweite Teil von Goethes „Faust“ sich wirklich intensiv mit der Antike befasst, indem die Figur der Helena in den Faust-Kosmos integriert wird. Also wollte ich die Chance nicht versäumen, dieses unfassbar wichtige und beeindruckende Werk (mal wieder) etwas in die Aufmerksamkeit des Geschäfts zu rücken. Viele kennen Faust nur als nervige Schullektüre und blocken beim Lesen unter Zwang ab. Schade, denn man nimmt deutlich mehr mit, sprachlich und inhaltlich, wenn man sich (freiwillig) auf die Lektüre einlässt.




Epigramme
von Martial

Bei antiker Literatur denkt man meist an bewegende, große Themen, Ernsthaftigkeit, Heldentum und Philosophie. Martial stellt – in trotzdem sprachgewandter Weise – einen Gegensatz zur Erwartung dar. In seinen kurzen Epigrammen vermittelt der Dichter die profansten und derbsten Witze, Beleidigungen und Feststellungen. Perfekt zum an einer zufälligen Stelle Aufschlagen und sich für die unfassbare Absurdität begeistern.




Gorgias
von Platon

Dann doch noch ein ernsteres Werk antiker Literatur, grundlegend für platonische Philosophie. Im Gorgias, einem klassischen sokratischen Dialogs Platons, legt dieser Grundsteine der Moral und des richtigen Lebenswandels fest und argumentiert für diese im Kontext intensiver Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Erstaunlich relevante Themen wie das Gemeinwohl, Egoismus und das Recht werden intensiv diskutiert und auch erstaunlich starke Situationskomik von Seiten des Sokrates lockert das Ganze auf und nimmt etwas Anstrengung heraus. Als kurze und bereichernde Lektüre sehr zu empfehlen.



Die Gesamtwerke von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft

Passend zur Zeit (wenn man um den Oktober herum Schauerliteratur sucht) empfiehlt es sich, statt immer nur zu Stephen King oder modernen Krimis auch mal zu den Klassikern der Horrorliteratur zu greifen, dem großen Meister Poe und dem (fast genauso) großen Meister Howard Phillips Lovecraft. Beide bieten eine wunderbar antiquierte Wortfülle, die man heute so kaum noch findet, und machen durch eine alte Ausdrucksweise die Atmosphäre in ihren Erzählungen und Gedichten komplett. Auf dem Gebiet des Horrors bleiben beide für mich unübertroffen, statt billigen Klischees und bereits hundertmal durchgekauten immer wieder gleichen Monstern, findet man bei Poe und Lovecraft die Wurzel des Horrors, der menschlichen Angst. Poes gotische, klassische Erzählungen und Gedichte wie „Der Rabe“ oder „Die Maske des roten Todes“ und Lovecrafts trotz seiner mehr als zweifelhaften Persönlichkeit verstörende und andersweltliche Sagenwelt kosmischen Horrors kombiniert mit einer monströsen Sprachgewalt sind, gerade jetzt, atmosphärische Meisterwerke. Wenn möglich, auf Englisch zu genießen!

Die Stadt der Träumenden Bücher
von Walter Moers

Walter Moers war immer mein Lieblingsautor, und auch heute noch ist er für mich einer der Besten. Das heißt nicht, dass ich ihm die höchste literarische Qualität, die Verarbeitung der wichtigsten gesellschaftlichen Themen, die beste erzählerische Fähigkeit zuschreibe, nein, das kann und will ich sicher nicht beurteilen. Walter Moers ist jedoch der Autor, den ich mit der größten Freude lese. Selten habe ich mich von einem Buch mehr unterhalten gefühlt, selten habe ich über eventuelle Fehler mehr hinwegsehen können, als es bei „Die Stadt der träumenden Bücher“ sowie den meisten anderen fantastischen Zamonien-Romanen von Moers der Fall ist. Ich kann dieses Buch, diese Bücher, immer und immer wieder lesen, ohne dass es langweilig wird, es ist wie ein gutes Lied, das man sich in Dauerschleife anhören kann, ohne dessen müde zu werden. Walter Moers schafft es, eine humoristische Fantasywelt mit starker Erzählkunst und literarischen Anspielungen en masse zu verknüpfen, sodass das Lesen anderer Literatur den Genuss an Moers‘ Büchern signifikant verstärkt. Ich bin oft zu Moers zurückgekehrt, nur um in seinen Büchern Poe, Lovecraft oder Goethe wiederzufinden. Moers ist ohne falschen Elitarismus zugänglich und bietet unglaublich viel.

Moritz Ossmann