„FERTIG! mein Alter!“ [1]
Marcus Dahmke sprach mit der Übersetzerin und Herausgeberin Elisabeth Edl über Gustave Flaubert und empfiehlt für die weihnachtliche Lektüre die von ihr jüngst übersetzten Lehrjahre der Männlichkeit.
Dahmke: Liebe Frau Edl, um mit einer unkonventionellen Frage zu starten: Madame Bovary oder die Lehrjahre? Darf man sich als Übersetzerin zu einem Lieblingstext bekennen und sich einem der großen Romane zuordnen? Oder sollte man sich seine Neutralität bewahren?
Edl: Nein, man muss sich überhaupt nicht neutral verhalten, kann es auch gar nicht! Und deshalb steckt man vielleicht auch am stärksten in dem Buch drin, in den Figuren, in den Szenen, an denen man gerade arbeitet. Aber auch mit einem gewissen Abstand gibt es immer noch persönliche Vorlieben. Madame Bovary oder die Lehrjahre? Da entscheide ich mich für die Lehrjahre: sie sind das vielschichtigere, kompliziertere Buch, breiter angelegt, enthalten eine Fülle von Leben, also von ganz unterschiedlichen Leben, Lebensversuchen. Ein Buch über eine Epoche, eine ganze Welt, ein großes Panorama, unerschöpflich. Aber wie so oft, wenn sich zwei streiten, darf sich der dritte freuen: den Drei Geschichten gehört meine besondere Zuneigung, weil sie so konzentriert sind, so unglaublich fein und poetisch gearbeitet. Und das Dienstmädchen Félicité, ganz besonders ihr weltberühmter Papagei Loulou sind nicht umsonst sprichwörtlich geworden für Flaubert – unvergesslich.
Dahmke: Im Herbst ist die Neuübersetzung der Éducation sentimentale bei Hanser erschienen. Zuvor sind bereits Madame Bovary und die Drei Geschichten erschienen, die Sie ebenfalls ins Deutsche übertragen haben. Was waren und sind die Schwierigkeiten bzw. Hürden bei der Übersetzung von Flaubert?
Edl: Der Stil. Die Sprache Flauberts. Das, womit er sich selbst am meisten herumgeplagt hat. Flaubert wollte nicht einfach nur eine Geschichte erzählen, einen Roman, eine spannende Handlung, seine Idee war es, ein Kunstwerk zu schaffen, am liebsten „ein Buch über nichts“, das nur durch seine Sprache, durch den Stil existiert. Das ist natürlich total übertrieben, aber trotzdem war sein einziges Ziel die Kunst. Denken Sie zum Beispiel an Madame Bovary, eine durchschnittliche Arztgattin hält sich zwei Liebhaber, immerhin nacheinander, ruiniert die Ehe, die Familie und bringt sich um. Trivial. Das hätte ein x-beliebiger Dienstmädchenroman werden können, wovon es Hunderte gibt. Flaubert aber hat Jahre damit verbracht, damit es kein Dienstmädchenroman wurde. Er wollte beweisen, dass es eine triviale Handlung gar nicht geben kann, wenn der Stil allerhöchsten Ansprüchen genügt. Und wenn Sie mich fragen, was die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen sind, dann wäre die Antwort kurzgefasst: Flauberts Anspruch muss auch in der deutschen Sprache erfüllt werden.
Dahmke: Bei der Éducation sentimentale war u.a. die Titelfindung mit einigen Überlegungen verbunden. Wie kam es zu den Lehrjahren der Männlichkeit und welche Rolle hat Goethes Wilhelm Meister für Flaubert und den neuen deutschen Titel gespielt? (Ist die Ironie zurück im Titel?)
Edl: Das Problem liegt im Adjektiv „sentimentale“; die bisherigen Übersetzungen variieren hier die Begriffe „Herz“, „Empfindsamkeit“, „Gefühl“. Im Grunde stimmt das aber alles nicht, es geht nicht nur um Gefühle, es geht um den gesamten Charakter eines jungen Mannes, der erwachsen werden soll. Es geht also um Charakterbildung. Damit sind wir bei Goethe, der einen großen Einfluss bereits auf den jungen Flaubert hatte. Und da lag es für mich sehr nahe, durch den Begriff „Lehrjahre“ – den es übrigens auch in früheren Übersetzungen schon gab – auf diese Verbindung zu verweisen.
Dahmke: Madame Bovary kann als Fallgeschichte gelesen werden, die Lehrjahre wiederum als Roman einer ganzen Generation. Sie erwähnen in Ihrem Nachwort den Begriff des Bildungsromans, den ebenfalls Goethe mitgeprägt hat. Tatsächlich verfolgen wir den Protagonisten Frédéric Moreau auf seinem Weg im und um das politisch umkämpfte Paris der 1840er Jahre. Ein Weg zu moralischer Erkenntnis, zu tiefen Einsichten in die Liebe, die Gesellschaft, ins Leben... Oder doch nicht?!
Edl: Da komme ich zurück auf die Frage der Ironie, die ich Ihnen noch nicht beantwortet habe. Denn ohne diese Ironie ist bei Flaubert die Frage nach dem Bildungsroman gar nicht zu beantworten, also die Frage nach der Entwicklung, nach den Einsichten eines jungen Mannes. Das alles soll der Bildungsroman darstellen, analysieren: den Weg eines jungen, romantischen Mannes zur seriösen und nützlichen Existenz eines Erwachsenen in der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu gehört alles: die Liebe, die Ehe (was ja nicht ein und dasselbe ist), der Beruf, die Karriere, die sozialen Beziehungen usw., eben alles. Und der Witz, die Ironie bei Flaubert besteht eben darin, dass diese Lehrjahre zu nichts führen, eben auch nicht zu reifer, gesellschaftstüchtiger, ehetüchtiger Männlichkeit. Frédéric Moreau, der Held, ist als erwachsener Mann eben auch nicht klüger als zuvor. Flaubert hielt nicht allzu viel von bürgerlichen Idealen. Und bei Lehrjahre der Männlichkeit hat mir natürlich der Bezug auf Friedrich Schlegels Roman Lucinde gefallen – ein Zwinkern in Richtung deutsche Romantik.
Dahmke: „FERTIG! mein Alter!“ schreibt Gustave Flaubert an einen Freund, nachdem er seine Éducation sentimentale nach jahrelanger Recherche und Arbeit am Text beendet hat. Die Würdigung für seine Arbeit blieb jedoch aus, der Roman wird von vielen zeitgenössischen Zeitungen verrissen. Erst nach Flauberts Tod fand der Roman Anerkennung. Warum? Proust, Benjamin, Kafka und viele weitere wurden von Flauberts Éducation beeinflusst. Wie und warum konnte sich die Éducation vom 19. Jhd. bis heute im Kanon behaupten? Was ist so „modern“ an Flauberts Erzählstil und seinen Themen?
Edl: Der Einfluss von Flaubert auf die moderne Literatur ist so riesig, man hat sich so sehr gewöhnt an seine Innovationen, dass einem fast gar nicht mehr auffällt, was daran so neu und unerhört war. Denken Sie an das, was ich vorhin über Madame Bovary gesagt habe: Nach den Lehrjahren war es ganz ähnlich. Die Kritik war empört: Wie kann man – noch dazu mit solchem Aufwand, wie Monsieur Flaubert ihn treibt – einen anspruchsvollen Roman schreiben über triviale Figuren und mittelmäßige Versager wie Emma Bovary und Frédéric Moreau? Das war damals eine ganz normale Frage. Heute käme kein Mensch mehr auf die Idee, ein Kunstwerk müsse sich zwangsläufig mit besonders edlen, herausragenden, tragischen, lehrreichen, vorbildhaften Figuren beschäftigen. Im Gegenteil! Aber wenn wir heute von einem Roman erwarten, verlangen, dass er uns etwas über unsere, über die wirkliche Welt verrät, und nicht über idealisierte Kunstfiguren, dann – ob es uns bewusst ist oder nicht – haben wir das in Flauberts Lehrjahren der Männlichkeit gelernt.
Dahmke: Was darf uns im Flaubertjahr 2021 (200. Geburtstag!) noch erwarten? In Ihrem Nachwort schreiben Sie etwas zu einer Neuübersetzung der Memoiren eines Irren...
Edl: Im Frühjahr 2021 erscheint bei Hanser die große Flaubert-Biographie von Michel Winock, in der Übersetzung von Petra Willim und Horst Brühmann, ein Meilenstein für alle, die mehr über diesen Autor erfahren wollen. Und zum Geburtstag am 12. Dezember selbst die Memoiren eines Irren, ein kleiner Roman, geschrieben vom 17-jährigen Flaubert! Nach den großen Meisterwerken dachte ich, es sei keine schlechte Idee zu zeigen: Wo haben Flauberts eigene Lehrjahre begonnen? Nach Abschluss der Arbeit an den Lehrjahren kam Flauberts Stoßseufzer: „FERTIG! mein Alter!“ Die Memoiren zeigen einen Flaubert, der noch lange nicht „fertig“ ist, das ganze Leben liegt noch vor ihm.
Dahmke: Herzlichen Dank, liebe Frau Edl, für das Interview
und den Blick auf Ihren Schreibtisch!
[1]
Flaubert an Jules Duplan. Vgl. Nachwort von Elisabeth Edl. In ebd.
Herausgeberin: Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit, Hanser 2020, S.
602.