Dienstag, 9. Mai 2023

 

Irische Literatur

Irland, diese wunderschöne grüne Insel, zeichnet nicht nur für ihre atemberaubenden Landschaften, freundlichen Einwohner, U2 und das gute Bier aus: Irland ist auch ein Land der Kultur. Dieses Land, mit seiner überschaubaren Bevölkerung, hat auch eine beachtliche Anzahl literarischer Legenden hervorgebracht. Hier möchten wir Ihnen eine kleine Gruppe irischer Autoren vorstellen und Ihnen ein paar Leseempfehlungen geben.

James Joyce

ist natürlich einer der berühmtesten irischen Autoren und wichtigster Vertreter der irischen Moderne. Mit seinen experimentellen Texten hat er so manch einem Literaturstudenten Kopfschmerzen bereitet. Der Ulysses-Autor wurde 1882 in Dublin geboren und verstarb 1941 in der Schweiz. Wie viele Iren hatte Joyce eine komplizierte Beziehung zu seinem Herkunftsland und mehr als die Hälfte seines Lebens auf dem europäischen Festland. Trotzdem, wie stets in seinen Werken zu lesen ist, hatte er eine Intensive, wenn auch komplizierte, Liebe zu Dublin selbst und die Stadt ist Protagonistin in seinen Werken. Wenn man Dublin erkunden möchte, kann man das durch die Bücher von Joyce mühelos zuhause aus.

Dubliner, eine Sammlung von fünfzehn unabhängigen Kurzgeschichten, ist sein erste Prosawerk. Aus einer Kombination von Autobiografischen Elementen und Beobachtungen aus dem Leben, hat Joyce in diesem Zyklus seine Heimatstadt portraitiert.

Joyce legt großen Wert auf die realistische Darstellung von Dublin und seinen Einwohnern. Einige Szenen sind autobiografisch inspiriert, viel entstammt seiner erstaunlichen Beobachtungsgabe, oft hat er sich am Leben seiner Freunde und Verwandten vergriffen. Wahrheit und ihre Darstellung waren für Joyce nicht nur von künstlerischer, sondern auch vor moralischer Priorität. Er hielt es für wichtig der irischen Bevölkerung zu zeigen, wer sie sei und schrieb an seinen Verleger, als die Publikation sich verzögerte: „Ich glaube ernsthaft dass Sie den Fortschritt der Zivilisation in Irland dadurch aufhalten werden, dass Sie die Iren daran hindern einen Blick in den Spiegel zu werfen.“

Die Iren, die in Dubliner skizziert werden, sind eindeutig vom hundert Jahre andauernden Niedergang der Stadt beeinträchtigt. Dublin hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwar noch beeindruckende Straßenzüge und Parks, doch die Wirtschaft liegt fast still. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele leben in unzumutbaren Umständen. Joyce konzentriert sich auf die Charaktere der unteren Mittelschicht und ihre Sorgen. Jegliche sozialen Ambitionen, die seine Protagonisten pflegen mögen, werden als naiv entlarvt. Gewalt gegen Kinder und Frauen, ist ein wiederkehrendes Thema. Joyce kritisiert auch die Macht, die die katholische Kirche ausübt. Er hält die Kolonialherrschaft der Engländer für den Ursprung allen Übels auf der Insel und wundert sich doch, warum die Bevölkerung sich so bereitwillig von der Tyrannei Englands in die aus Rom flüchtet.

In wenigen Worten bekommt man ein klares Bild einer Stadt und einer Zeit. Joyce‘ Talent liegt darin Details so zu schreiben, dass mit wenig Pinselstrich ein überzeugendes Portrait einer Stadt entsteht.

James Joyce, Dubliner, 254S, € 4,95


Flann O‘Brien

Flann O‘Brien, der eigentlich Brian O’Nolan heißt, wurde 1911 in country Tyrone geboren und starb 1966 in Dublin. Wie auch James Joyce, von dem er beeinflusst wurde, ist er als einer der wichtigsten Vertreter der irischen Moderne bekannt und er wird vor allem für seinen Humor geschätzt, den er auch in seinen Satiren zur Schau stellt. Schon als Student fing er fleißig an zu schrieben und gründete mit einigen Kommilitonen auch ein Literatur Magazin

The Third Policeman wurde zwischen 1939 und 1940 geschrieben, fand jedoch keinen Verleger. Erst im Jahr nach dem Tod des Autors wurde der Roman veröffentlicht. Das Buch spielt auf dem Land und wird aus der Perspektive eines jungen Forschers erzählt, der sich mit dem fiktiven Philosophen de Selby beschäftigt. In seiner Jugend erleidet unser Erzähler mehrere Schicksalsschläge: er verliert nicht nur sein Bein, sondern auch seine Eltern. Doch er widmet sein Leben Recherche über de Selby und verfasst schließlich ein Buch, welches er selbst für ein Meisterwerk hält. Leider hat er aber kein Geld, und somit keine Möglichkeit es zu veröffentlichen. Als er feststellt, dass sein Freund Divney aus Neid und Gier einen Mord plant, um den wohlhabenderen Mathers zu bestehlen, sieht er seine Gelegenheit an Geld zu kommen. Da Divney nach dem Attentat nicht verraten möchte, wo er seine Beute versteckt hat, weicht der Erzähler ihm nicht mehr von der Seite. Und das über mehrere Jahre hinweg. Schließlich führt ihn eine Kombination eigentümlicher Vorkommnisse zu einer Polizeistation, in der drei Polizisten sitzen, die von Fahrrädern fasziniert sind. Gänzlich unerwartet lernt er hier eine wilde Mischung verwirrende Theorien und irrationale Konzepte kennen. Es geht um die Essenz der Zeit, Tod, und Existenz.

The Third Policeman ist mysteriös und surreal. Auf seine experimentelle Art macht sich der Autor über irische Kultur, Sprache und Gesellschaft lustig. Die Insel mit ihrer komplizierten Geschichte und ihren komplexen Einwohnern stehen im Mittelpunkt des Romans. All das verpackt Flann O’Brien mit spielerischer Freude in viel Humor. Wer keine Angst vor absurden Texten hat, wird von dieser Lektüre reich belohnt.

Flann O'Brien, The Third Policeman, 221S, € 12,55


Colm Toìbìn

Colm Toìbìn, geboren 1955 in County Wexford, ist ein sehr aktiver und erfolgreicher Autor. Er hat zehn Romane geschrieben, hat Kurzgeschichtensammlungen herausgebracht und viele sachliche Texte verfasst. In seinen Kurzgeschichten und Romanen befasst Toìbìn sich mit irischer Gesellschaft und Diaspora, der katholischen Religion und ihren Vermächtnissen, und auch mit Maskulinität und Homosexualität.

Brooklyn, erschienen im Jahr 2009, spielt in den fünfziger Jahren und befasst sich mit einem weiteren Thema, das Irland bis heute stark beeinflusst: der Auswanderung. In den 50ern ist Irland noch ein sehr armes Land, für junge Leute gibt es kaum Perspektiven, Jobs sind rar, gute Jobs eigentlich nicht existent. Eilis Lacey ist eine junge Frau aus Enniscorthy, deren Familie mit Hilfe des Pastors organisiert, dass sie Irland verlassen und nach New York auswandern kann. Sie arbeitet in einem Kaufhaus und nimmt an einem Buchhaltungskurs teil. Doch Heimweh, verstärkt durch den langweiligen Job und das Leben im Haus einer strengen Irin, plagt sie sehr und lässt sie an ihrer Entscheidung, die Heimat zu verlassen, zweifeln. Ganz langsam gestaltet sie ihr bescheidenes Leben und verliebt sich schließlich in einen italienischen Klempner – und schon sieht die Welt viel schöner aus! Eilis kann die Möglichkeiten, die New York ihr bietet, wieder sehen und genießen. Sie malt sich aus, wie ihr Leben mit Tony sein könnte. Bis zuhause in Irland ein Unglück passiert und sie für einige Wochen in die Heimat zurückkehren muss. Am Beispiel einer jungen, mutigen und doch ängstlichen Frau, stellt Colm Toìbìn den Zwiespalt dar, den manch ein Migrant verspürt. Eilis ist hin und hergerissen zwischen der Verbundenheit zu ihren Wurzeln und dem Ort, an dem sie glaubt wachsen zu können.

Brooklyn ist ein feinfühliger und berührender Roman der genau dieses Zerrissen Sein, dass so viele Iren erfahren haben, gekonnt in den Vordergrund rückt.

Colm Toìbìn, Brooklyn, 304S, € 10,90


Claire Keegan

Claire Keegan wurde 1968 in Wicklow, südlich von Dublin geboren und bekannt durch ihre Kurzgeschichten, welche sie seit 1999 veröffentlicht. Den größten Erfolg hatte sie jedoch mit Kleine Dinge Wie Diese (2021). Was Keegan so besonders macht ist ihre sparsame Sprache. Sie braucht nicht mehr als einhundert Seiten um alles zu sagen, was gesagt werden muss. Dieses Buch ist wie ein Diamant, komprimiert bis nur noch das notwendige übrigbleibt und das strahlt unwahrscheinlich hell.

Es ist kurz vor Weihnachten 1985 in einer kleinen Stadt in Irland. Bill Furlong ist Kohlehändler und weiß, dass für ihn die arbeitsamste Zeit beginnt. Es ist Winter und kalt, jeder friert, doch auf dem Land in Irland ist man arm. Kaum jemand kann sich die Energie leisten, die zum Heizen gebraucht wird. Wir folgen Furlong von Haus zu Haus und treffen einen sehr großzügigen Mann, der seinen Kunden ihre Bestellung gerne auf Rechnung liefert, auch wenn er nicht weiß ob er bezahlt werden wird. Zuhause muss seine Frau versuchen auch ohne das Geld die fünf Töchter zu ernähren. Eine Mutter, die die Güte und Großzügigkeit ihres Mannes liebt, sich aber zum Schutz ihrer Kinder dagegen wehren muss. Eines Morgens stößt Furlong auf etwas, dass sein Weltbild verändert und in ihm eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit auslöst.

Am Rande der Stadt ist ein Konvent, mit einer Schule, die auch seine Töchter besuchen und einer Wäscherei, in der junge Frauen arbeiten. Als Bill Furlong die Kohlelieferung für das Konvent abgehen möchte, kommt er an einer Tür vorbei die geschlossen hätte sein sollen und trifft auf ein Mädchen, schmutzig, ausgehungert und auf der Suche nach ihrem Baby. Sie wird schnell eingefangen und weggebracht, Furlong wird von einer Schwester abgelenkt, aber die Bilder werden ihn nicht mehr verlassen.

Diese kleine aber eindrucksvolle Novelle dreht sich um die Macht, die die katholische Kirche bis vor kurzem auf Irlands Bevölkerung ausgeübt hat. Die Magdalene Laundries waren von der Kirche geführte Heime, in denen junge Frauen, die zum Beispiel außerehelich schwanger wurden, eingesperrt und versklavt wurden. Die Spannung in Keegans Buch stammt zum einen aus der Frage ob Furlong auf seine Erkenntnis hin handeln wird, zum anderen aus der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der er lebt, in der viele wissen oder zumindest vermuten, was vor sich geht und doch niemand etwas unternimmt. Furlong kämpft mit dem Wissen, dass eine falsche Entscheidung den Ruin für seine Familie bedeuten könnte, doch sein Gewissen lässt ihn nicht in Ruhe und er kann nicht umhin sich vorzustellen, wie sein Leben ganz anders hätte verlaufen können.

Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese, 112S, € 20


Audrey McGee

hat im letzten Jahr ihr zweites Buch veröffentlicht und wurde schon für den Women’s Prize for Fiction und den Booker Prize nominiert.

The Colony handelt von den Zwängen und Regeln, die einer Gesellschaft durch die Kolonisierung auferlegt werden und beschäftigt sich insbesondere mit deren Auswirkung auf Sprache und Kunst. Der Roman spielt auf einer winzig kleinen irischen Insel (gerade mal 3 Meilen lang) in den späten 70er Jahren. Es ist einer der wenigen Orte an denen noch ausschließlich Irisch gesprochen wird und die Einwohner stark traditionsverbunden Leben. Die alltägliche Routine wird unterbrochen, als zwei Fremde für den Sommer auf die Insel kommen.

Mr Lloyd ist Künstler aus London, der sich sehnt die Steilküsten und fast unberührten Landschaften zu malen und seine stagnierende Karriere wiederzubeleben. Er erwartet Einsamkeit und ist dementsprechend verärgert, als er feststellt, dass noch ein anderer Ausländer zu Gast kommt. Jean-Pierre ist ein französischer Linguist, der schon seit Jahren regelmäßig auf die Insel reist, um die Entwicklung der irischen Sprache in diesem fast gänzlich abgeschlossenen Raum zu studieren. Die Anwesenheit des Engländers beunruhigt ihn, da er die jüngeren Bewohner zum Englisch sprechen anregt und er befürchtet, seine Studien nicht mit dem gewünschten Ergebnis abschließen zu können. Er sieht diese Insel als „sein“ Land, auf das er als Wissenschaftler Vorrecht hat.

Der Engländer und der Franzose kommen sich immer wieder in die Quere und werfen einander vor, idealisierte Bilder der Insel und ihrer Einwohner zu haben. Schließlich wird dieser Kampf vor allem auf dem jungen James ausgetragen, einem der wenigen Jugendlichen, die hier noch leben. James – Seamus, wie JP ihn gegen seinen Willen nennt – möchte nicht enden wie sein Vater, Onkel und Großvater, die beim Fischen verunglückt und ertrunken sind. Er fürchtet das Meer, und obwohl er eine enge Beziehung zu seiner Mutter hat und für seine Familie da sein möchte, kann er sich eine Zukunft nicht vorstellen in der er lediglich die Vergangenheit wiederholt. Er fühlt sich zu der Kunst Lloyds hingezogen und schon bald überzeugt er den grimmigen Maler dazu ihm etwas beizubringen. So entwickelt James den Wunsch die Insel zu verlassen und in London Kunst zu studieren. Doch noch etwas dringt von außen auf die Insel: immer häufiger werdende Nachrichten von Gewalt und Opfern der „Troubles“ in Nordirland. Das Buch ist immer wieder unterbrochen von kurzen, sachlichen Reportagen über die terroristischen Anschläge und Morde zwischen Protestanten und Katholiken. Schritt für Schritt findet diese Realität auch Einzug in die Gedanken und Unterhaltungen der Inselbewohner.

The Colony ist eine Geschichte von Gewalt und dem Kampf um Selbstbestimmung. Auf dieser Insel wird der Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt ausgetragen. Das Besondere an diesem Roman ist die Sprache. Sie ist poetisch, anregend, stark.

Magee, die ursprünglich Journalistin ist, sagt, die hat versucht in Romanform an eine Wahrheit heranzukommen, die man in der Reportage so nicht darstellen kann. Gewissermaßen eine existenzielle Wahrheit, welche die Natur einer Gesellschaft präsentiert. Ähnlich wie Joyce, vielleicht. Für mich schafft sie das insbesondere mit ihrer Landschaftsbeschreibung. Sie beschreibt die west-irische Landschaft so treffend, dass man sich dort hin versetzt fühlt und nachvollziehen kann unter welchen Umständen die Inselbewohner leben. Beim Lesen hat man das Gefühl, den Wind in Magees Sprache hören zu können und das Meer vor Augen zu haben.

Audrey Magee, The Colony, 256S, € 11,50

Und weil man irische Literatur nicht auf diese fünf Vertreter beschränken kann, finden Sie hier noch ein paar weitere Empfehlungen:


Mittwoch, 15. Februar 2023

Buchempfehlungen für Juristinnen und Juristen

Dostojewski – Schuld und Sühne

Ein mittelloser Student bringt eine alte Pfandleiherin und deren Schwester im Affekt um, woraufhin er sich nach einigem Überlegen, von Selbstvorwürfen und Sühneverlangen geplagt, der Polizei stellt. Dieser kurze Satz könnte den Inhalt des wohl bekanntesten Roman des großen und vielleicht bedeutendsten russischen Literaten, Fjodor Dostojewski, kurz und pointiert zusammenfassen.

Das tut er aber nicht. Er gibt allerhöchstens den groben Rahmen dieser meisterhaften Erzählung von menschlichen Abgründen und Verlangen, sowie grundlegenden Fragen nach Schuld, sowie Gut und Böse, wieder.

Der russische Schriftsteller schildert vor dem Hintergrund eines fiebrigen und lieblosen St. Petersburgs die Geschichte des verarmten und einsamen Studenten Rodion Raskolnikow, der sich selbst für einen großen Protagonisten der Weltgeschichte hält, welcher fälschlicherweise zur Armut verurteilt ist, und der Gesellschaft und seinen Mitmenschen immer mehr abhanden kommt. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt begegnet Raskolnikow der gerissenen Pfandleiherin Aljona Iwanowna. Da sie in seinem Weltbild zu unwerten Existenzen zählt, überfällt er Frau Iwanowna, erschlägt sie und ihre Schwester kaltblütig mit einem Beil und flieht. 

In den folgenden Tagen irrt Raskolnikow fieberhaft umher, verfolgt von Selbstvorwürfen und seinem eigenen Gewissen. Nachdem er der Polizei mehrfach nur knapp entronnen ist, stellt er sich schließlich und offenbart seine Tat.

Der Roman erkundet vielschichtig die menschliche Psyche und stellt Fragen nach individueller Schuld und Vorwerfbarkeit. Wann ist eine Handlung gut oder böse und vor allem: Kann sie einem Menschen vorgeworfen werden? Dostojewski zeichnet das Bild eines Menschen, der mit seinem eigenen ideellen Scheitern konfrontiert wird, dessen Weltbild zerbricht und Zuflucht in seinem Gewissen und einer schonungslosen Sühne sucht.

Eine absolute Empfehlung für jeden Juristen, der hinter einer Straftat nicht nur die Erfüllung von einigen Tatbestandsmerkmalen sieht, sondern einen Menschen mit seiner eigenen Geschichte.

Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne, 752 S., € 15



Ronen Steinke – Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“- Dies proklamiert zumindest der Art. 3 I des Deutschen Grundgesetz. Danach darf kein Mensch in Deutschland vor dem Gesetz ohne sachlichen Grund ungleich behandelt werden. Doch findet diese Verfassungsnorm Anwendung in den deutschen Gerichten, oder ist sie bloß Verfassungspoesie? 

Darf man Autor Ronen Steinke Glauben schenken, ist dieses Grundrecht nichts außer kitschiger Pathetik. Er ist der Meinung, das deutsche Recht begünstigte jene, die begütert sind, wohingegen es diejenigen benachteilige, die wenig oder nichts haben. Millionenschwere Wirtschaftsdelikte werden unter den Tisch gekehrt, während Schwarzfahren oder der Diebstahl eines Brotes streng und unnachgiebig bestraft würden.

Der deutsche Jurist stellt in einer packenden Reportage die systematische Ungerechtigkeit in unserem Strafsystem dar. Steinke recherchiert bei Staatsanwälten und Richtern, besucht Haftanstalten und spricht mit Anwälten und Verurteilten.

Unnachgiebig zeichnet Steinke ein messerscharfes Bild von einem angespannten Deutschland, in welchem sich soziale Ungleichheiten immer weiter verschärfen. Arm und Reich driften stetig weiter auseinander. Und diese Entwicklung spiegelt sich auch in dem Arbeits- und Strafverhalten der deutschen Justiz wieder, welche die sozialen Gegensätze vergrößert.

Ronen Steinke stellt dringende Forderungen an ein intoxikiertes und reformbedürftiges Strafsystem, die sich kein moderner Rechtswissenschaftler entgehen lassen sollte -ob Strafverteidiger oder Familienrechtler.

Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, 272 S., € 20

 

Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker

Stellen Sie sich vor Sie sind Kriminalkommissar und Ihr Mitarbeiter wird umgebracht. Zur Aufklärung des Falls setzen Sie auf Ihren besten Kollegen – der aber eigentlich der Mörder ist.


Das ist das Szenario, in welchem der Meister der kurzen und pointierten Sätze, Friedrich Dürrenmatt, einen abstrusen Kriminalfall voller Finesse schildert, welcher die eigen Moralvorstellungen und Überlegungen zu einer gerechten Strafe herausfordert.

Kriminalkommissar Hans Bärlach ist krank, als sein eigentlich bester Mitarbeiter, Ulrich Schmied, kaltblütig erschossen wird. Er setzt seinen kaltschnäuzigen Assistenten Tschanz auf die Fährte des Mörders, wobei Bärlach nicht weiß, dass Tschanz der Übeltäter ist. Vermeintlich zufällig lenkt der Mörder den Verdacht und die Ermittlungen auf den kriminellen Lobbyisten Gastmann, welcher der langjährige Rivale von dem Oberkommissar ist.

Im Zentrum der Handlung steht die Wette zwischen Kommissar Bärlach und dem Verbrecher Gastmann, der Bärlach bisher immer durchs Netz gegangen ist. Gastmann ist der Meinung, er würde niemals von Bärlach geschnappt werden und sich in Sicherheit wähnt.

Der Richter nimmt hier nicht die Rolle eines fairen und gerechten Juristen ein, welcher auf die reine Verurteilung des Täters abzielt. Viel mehr stellt Dürrenmatt Fragen nach Moral und den Grenzen zwischen Gut und Böse bei einer Tat. – Ein spannendender Kriminalroman mit Tiefgang, der wohl jeden Juristen packen wird.

Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker, 192 S., € 10

 

Sandra Frimmel – Kunst vor Gericht

Egal ob während der Schulzeit im Politikunterricht, bei der Strafrechtsvorlesung im Hörsaal, oder bei der finalen Arbeit als Strafverteidiger; der Begriff des Strafrechts wird fast immer nur mit Mord, Körperverletzung oder Diebstahl in Verbindung gebracht und behandelt.

Fast keiner spricht in diesem Zusammenhang von Kunst, zumal Kunst ja auch nicht strafbar sein kann – oder?

Oh doch, spätestens seit dem 21. Jahrhundert ist die strafrechtliche Verfolgung von Kunst keine Seltenheit mehr. Ob Gerichtsprozesse wegen Kunstfälschung oder Uhrheberecht, die Kunst ist im Strafrecht angekommen.

Dabei wird im Falle eines Gerichtsprozess die Öffentlichkeit zumeist nur über das endgültige Urteil informiert, und nicht über die dem Urteil zugrunde liegenden ästhetischen Debatten.

Das findet Autorin Sandra Frimmel schade, denn eben diese Debatten seien es doch, die Aufschluss darüber gäben, über welches Kunstverständnis eine Gesellschaft verfügt und auf welche Weise sie diese in einem juristischen Rahmen verhandelt.

Frimmels Buch versammelt Materialien über Gerichtsverfahren, die seit Ende des 19. Jahrhunderts gegen Künstler und Kuratoren geführt worden sind und geführt werden.  Die Prozesse verdeutlichen einen Wandel der juristischen Bewertung von Kunst und den tiefgehenden Wandel eines gesellschaftlichen Kunstverständnisses.

Frimmels Fokus liegt hierbei auf der Frage, wie eigentlich vor Gericht über Kunst debattiert wird.

Diese ästhetische Debatte ist wirklich ein Muss für jeden kunstinteressierten Rechtswissenschaftler.

Sandra Frimmel, Kunst vor Gericht, 525 S., € 48

 

Hans Litten – Anwalt gegen Hitler


Deutschland 1933 bis 1945 – Ein Land fest in den Krallen des vielleicht grausamsten Menschen der jemals gelebt hat. Gleichschaltung aller politischen, gesellschaftlichen und juristischen Institutionen. Hitler hat es geschafft jeglichen Widerstand und Ungehorsam in seinem Keim zu ersticken. Fast jeden zumindest.

Einer der wenigen, welcher sich Hitler bereitwillig in den Weg stellte war Hans Litten. Der deutsche Rechtsanwalt stellte im Jahre 1931 den „Schriftsteller“ Adolf Hitler als Zeuge für die eklatante Gewaltbereitschaft von SA und NSDAP vor dem Berliner Kriminalgericht zur Rede.

In einem spektakulären Gerichtsprozess versuchte Litten aufzuzeigen, dass der Terror der SA und NSADP als planmäßige Taktik der nationalsozialistischen Führung dazu benutzt wurde, die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik zu zerstören.

Litten verteidigte als „Anwalt des Proletariats“ in zahlreichen Prozessen straffällige Jugendliche, trat als Nebenkläger für die von faschistischen Schlägertrupps attackierten Kommunisten auf und legte sich mit der rechtslastigen Justiz der Weimarer Republik an.

Der mutige Anwalt, dessen Lebensgeschichte in Ostpreußen mit der jüdischen Jugendbewegung begann und schlussendlich im KZ endete, ist heute, weit über Deutschland hinaus ein politisch bekannter Anwalt, der sich kompromisslos und unbeugsam für seine Mandanten eingesetzt hat.

Die Biografie von Hans Litten ist ein kleiner Lichtblick in einer sonst so dunkeldüsteren Zeit der deutschen Justiz-Geschichte.

Hans Litten, Anwalt gegen Hitler, 384 S., € 28

Sebastian Schneider


Mittwoch, 18. Januar 2023

Aufbruch in eine neue Zeit. Die modischen 1910er- und 1920er-Jahre

Einführung in die Ausstellung von Stefanie Schütte-Schneider (Auszug)


Die Welt gerät ins Rennen, die Mode hält Schritt


“Eine Frau muss jederzeit in der Lage sein, im Laufen einen Bus zu erreichen.” Dieses Zitat ist eines meiner Lieblingszitate Coco Chanel. Und ich finde, dass es wie kaum ein anderes den Geist der modischen Jahre beschreibt, die Sie hier in dieser klug zusammengestellten Ausstellung sehen. Und nicht umsonst war es Chanel, die diesen Geist am nachhaltigsten geprägt hat.


Beschleunigung, Geschwindigkeit, Rasen, Wirbeln, Rennen. Die Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und die zunehmende Motorisierung - sogar schon ab Beginn desselben - brachten das Leben aller in einen neuen Takt.



Und der wurde von Avantgarde-Künstlerkreisen wie den italienischen Futuristen, als auch indirekt den frühen deutschen Expressionisten hymnisch gefeiert wurde. Wo wir heute von Entschleunigung und Slow Life träumen, galt damals Beschleunigung und der Fast Track. Und das schlug sich mit dem Auslaufen der Belle Epoque Anfang des 20. Jahrhunders auch mehr und mehr in der Mode nieder. Die alte Behäbigkeit ablegen und in eine neue Welt aufbrechen. Auto fahren, Bus fahren, laufen, tanzen, wirbeln: Vielleicht etwas karikaturesk übertrieben, aber doch recht realistisch sehen Sie dies auf den Zeichnungen der Charleston-Tänzer*innen von Georges Goursat aus den 1920er-Jahren - Rhythmus, Wirbeln, superschnelle Bewegungen zu Jazz-Musik. Das Pulsieren wird regelrecht spürbar. Goursat hat dies an Prominenten seiner Zeit dargestellt, und es packt uns heute noch. Vielleicht erinnern Sie sich hier an die Tanzszene aus Babylon Berlin. 


Aber: Wir haben hier auch eine Zeichnung von Georges Barbier, einem der wichtigsten Pariser Mode-Illustratoren jener Zeit: „La Folie du Jour, die veranschaulicht, dass die neue Beweglich- und Geschwindigkeit und auch der dazu notwendige Paradigmenwechsel in der weiblichen Garderobe nicht erst mit den Roaring Twenties begann. Die Zeichnung fertigte er für das Journal des Dames et des Modes zum Neujahr 1914 an - und sie zeigt eine verwunderte Matrone, sichtbar noch im einengenden Belle-Epoque, wenn nicht gar viktorianisch gekleidet, und die blickt durch ihr Lorgnon auf zwei fast fliegend tanzende junge Paare. In der neuesten Mode und voll beweglich. 



Ein neues Frauenbild - die freie Frau


In dem Eingangszitat von Chanel ist nicht nur die Geschwindigkeit untergebracht, sondern eigentlich dreht es sich vor allem um das Bild der neuen Frau. Die moderne Frau, die mit der Industrialisierung verstärkt in die Arbeitswelt eintritt, die alleine unterwegs ist, die Auto fährt - die endlich so auftreten konnte, wie es die Sufragetten schon Jahrzehnte vorher gefordert hatten. 


Ohne Korsett und in der Lage, mit Männern wenigstens etwas Schritt zu halten. Und auch das sehen wir deutlich auf den hier ausgestellten Bildern: Die schwindende Taille, die befreienden kürzeren Haare, die mehr und mehr bloßgelegten Beine und die leichten fließenden, bewegungsfreundlichen Stoffe. Und natürlich das Ende der ausladenden Kopfbedeckungen. Die Männermode im Übrigen, das sehen Sie auch - wenn Sie sich erneut die Bilder von Goursat - und dann gibt es noch einen Mann bei Robert Leonards Zeichnung „Vom anderen Ufer“ von 1922, hat sich in wenig geändert. 


Der Anzug in zurückgenommenen Farben und das dazu passende Hemd sind, das hat die Modehistorikerien Anne Hollander wunderbar in ihrem berühmten Buch „Sex and Suits“ dargestellt, ist seit dem 17. Jahrhundert bis heute eigentlich relativ, also wirklich relativ, unverändert geblieben. Die Frauen hingegen haben ihre Kleidungsgewohnheiten in den 1910er und 1920er-Jahren radikal geändert - passend zu einer sich stark verändernden Rolle in der Gesellschaft. Diente die Frau aus wohlhabenden Kreisen zuvor gleichsam als „Ausstellungsstück“ des Reichtums des Mannes (auch dazu gibt es ein tolles Modebuch: „Mode nach der Mode“ von Barbara Vinken), so legt sie diese Rolle insbesondere in den 1920er-Jahren - zumindest partiell - ab. Die arbeitende Frau braucht andere Kleidung. Der Kittel der Farbrikarbeiterin, die Uniform der Krankenschwester - all das hinterlässt Spuren. Frauen hatten im Ersten Weltkrieg Jobs angenommen, die sie vorher nie machen durften - nach dem Krieg wurden viele Frauen Büroangestellte und mussten nicht mehr heiraten.





Der Erste Weltkrieg bedeutete natürlich eine brutale Zäsur in der Aufbruchsstimmung der 1910er-Jahre. Dass durch ihn die Veränderungen in den gesellschaftlichen Rollen und damit auch in der Kleidung extrem beschleunigt wurden, das wurde dann nach Ende des Krieges deutlich: Die Mode der 1920er-Jahre gibt sich sehr viel radikaler ist als die des vorangegangenen Jahrzehnts. Wohl wichtigstes Symbol dafür: Der nun allgemein verbreitete Bubikopf - Abzeichen der neuen Frau, dem „Flapper“ (Louise Brooks, Clara Bow) - selbstbewusst, oft unverheiratet, klug, sexuell selbstbestimmt und eben einfach frei. Frauen streben nach den Rechten der Männer und damit auch nach den modischen Insignien, die deren Freiheit markieren. Kurze Haare, Beinfreiheit, ungeschnürte Kleidung.


Und manchmal auch gar keine Kleidung: Der nackte Körper wird zelebriert. Er steht zum einen für den Wunsch nach Natürlichkeit, frei von der Körperfeindlichkeit der früheren Epochen. Schauen Sie sich hier z.B. den weiblichen Halbakt von AndréDerain an, der einfach sehr unverstellt und authentisch wirkt. Schon im 19. Jahrhundert gab es ja eine Hinwendung zum Trainieren des Körpers (Turnvater Jahn, mystische Gymnastik) und dahin, dass er sich frei von Kleiderzwängen in der Natur bewegen konnte (Lebensreform). Der nackte Körper steht aber auch für das Aufbrechen sexueller Konventionen und für erotische Freiheit. In Paris feiert die Tänzerin Josephine Baker, bekleidet nur mit Federn und Perlenkette Triumphe, in Berlin ist dies die Nackttänzerin Anita Berber. Die Diva auf der Zeichnung von Erté übrigens scheint Josephine Baker nachgebildet zu sein.


Die Ausstellung ist bis zum 25.2.2023 zu sehen.

Mittwoch, 26. Oktober 2022

Empfehlungen aus Antike, Gegenwart und ihrer Kombination

Die aktuelle Ausstellung im Bucerius Kunst Forum haben wir bei Felix Jud zum Anlass genommen, ein Schaufenster zum Thema „Antike“ zu gestalten und auf Leseempfehlungen dieses vielfältigen und überraschend relevanten Gebietes aufmerksam zu machen. Dabei wollten wir uns nicht ausschließlich auf die römische Antike zu Zeiten des Augustus beschränken, sondern haben die Auswahl auf ein Gesamtkompendium antiker Literatur, griechisch wie römisch, erweitert, sodass verschiedene Zeitspannen und Themenbereiche abgedeckt werden und großartige (nicht nur antike) Autorinnen und Autoren einen Platz in unserem Schaufenster finden. Zwischen antiker Literatur und moderner Aufarbeitung antiker Themen und Sagen ist also alles dabei. Da ich als Praktikant das Schaufenster gestalte, habe ich natürlich die Chance genutzt, meine Favoriten antiker Literatur auszuwählen und das ein oder andere persönliche Lieblingsbuch mit hineinzuschmuggeln (auch wenn es vielleicht gar nichts mit der Antike zu tun hat). In dieser Liste möchte ich zu einigen im Fenster vertretenen Büchern knappe Empfehlungen teilen.


Die Odyssee
von Homer

Die Odyssee ist ein Klassiker, wenn nicht sogar der Klassiker der Klassiker, den man gelesen haben muss. Denn abgesehen davon, dass der ungeheure Einfluss der Odyssee auf spätere Kultur und Literatur bis heute fortbesteht, ist sie in erster Linie eine fantastische (und oft auch humorvolle) Geschichte, die man auch ohne Tonnen von Sekundärliteratur und Interpretation einfach genießen kann (natürlich in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt). Von Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, schien mir letztere immer die zugänglichere, aber jeder sei angehalten, sich beide Geschichten zu Gemüte zu führen, es lohnt sich.



Das Lied des Achill
von Madeline Miller

„Das Lied des Achill“ von Madeline Miller ist ein Roman über Homosexualität. So könnte man diese moderne Aufarbeitung des trojanischen Sagenkreises herunterbrechen. Bei genauem Lesen stellt sich diese Geschichte jedoch als so viel mehr heraus. Miller integriert über die Geschichte von Patroklos und Achill moderne Themen elegant und durch Emotionen sowie wunderschöne Erzählungen in den Handlungsverlauf und schafft so eine kohärente Interpretation der Antike, die aufklärt über damalige Konzepte von Liebe und Ehre, zwischen Männern wie auch Frauen. Dabei wird das Buch nie unsachlich, unglaubwürdig oder historisch/mythologisch inakkurat. Miller füllt Lücken im Mythos mit sinnvollen Ergänzungen und somit gleichzeitig die Welt ihres Romans mit Leben. Viele Leser werden wissen, wie die Geschichte ausgeht, was den Charakteren zustoßen wird, denn die Handlung ist Jahrtausende alt, hunderte Male erzählt. Die aufmerksame Leserin oder der aufmerksame Leser, der/dem der trojanische Sagenkreis bekannt ist, wird die vielen eingestreuten Vorwegnahmen des Endes mit Belustigung und Trauer gleichermaßen aufnehmen. Indem nun der Fokus auf die dort befindlichen Persönlichkeiten gelegt und eine moderne Geschichte über nur allzu menschliche Anforderungen und Bedürfnisse wie Liebe konstruiert wird, offenbart sich die tiefere Themenvielfalt. Denn eigentlich ist „Das Lied des Achill“ gar nicht primär ein Buch über Homosexualität, dieser Teil ist selbstverständlich. Viel tiefgreifender geht der Konflikt, welche Rolle eine Beziehung, welche Rolle die Liebe in Korrelation mit anderen Prioritäten wie Ehre und Ruhm einnimmt, und wie daraus Probleme entstehen können. Achill als Person wird zwar stark gegenüber seiner traditionellen Darstellung romantisiert, umso mehr schmerzt jedoch so die Beschreibung seines Trotzes und Zorns im Streit mit Agamemnon, hier fast charakterlicher Verfall im Kontrast zur oftmals idyllischen Vorgeschichte. „The Song of Achilles“ ist zutiefst menschlich und modern, ohne dabei auf Kosten seines antiken Settings Defizite entstehen zu lassen, und hat mich mehrmals zu Tränen gerührt.


Ich bin Circe
von Madeline Miller

Wie schon im „Lied des Achill“ habe ich selten eine bessere Aufarbeitung antiker Epen gelesen als „Ich bin Circe“. Madeline Miller schafft es, die Geschichte von Circe aus überaus moderner, feministischer Perspektive zu erzählen, ohne dabei Ungenauigkeit oder gar Unglaubwürdigkeit zu erleiden. Der Roman ist emotional, persönlich und wahnsinnig fesselnd, Miller ergänzt an den richtigen Stellen die vorhandenen Mythen durch innere Charaktervorgänge. Eine Kenntnis der Odyssee und des generellen Sagenkreises bereichert die Lektüre enorm, sollte jedoch keinesfalls Voraussetzung sein.

Link zum Buch



Faust 1 und 2
von Johann Wolfgang von Goethe  

Diese beiden Werke gehören einfach in eine Liste wichtiger Bücher, auch wenn nur der zweite Teil von Goethes „Faust“ sich wirklich intensiv mit der Antike befasst, indem die Figur der Helena in den Faust-Kosmos integriert wird. Also wollte ich die Chance nicht versäumen, dieses unfassbar wichtige und beeindruckende Werk (mal wieder) etwas in die Aufmerksamkeit des Geschäfts zu rücken. Viele kennen Faust nur als nervige Schullektüre und blocken beim Lesen unter Zwang ab. Schade, denn man nimmt deutlich mehr mit, sprachlich und inhaltlich, wenn man sich (freiwillig) auf die Lektüre einlässt.




Epigramme
von Martial

Bei antiker Literatur denkt man meist an bewegende, große Themen, Ernsthaftigkeit, Heldentum und Philosophie. Martial stellt – in trotzdem sprachgewandter Weise – einen Gegensatz zur Erwartung dar. In seinen kurzen Epigrammen vermittelt der Dichter die profansten und derbsten Witze, Beleidigungen und Feststellungen. Perfekt zum an einer zufälligen Stelle Aufschlagen und sich für die unfassbare Absurdität begeistern.




Gorgias
von Platon

Dann doch noch ein ernsteres Werk antiker Literatur, grundlegend für platonische Philosophie. Im Gorgias, einem klassischen sokratischen Dialogs Platons, legt dieser Grundsteine der Moral und des richtigen Lebenswandels fest und argumentiert für diese im Kontext intensiver Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Erstaunlich relevante Themen wie das Gemeinwohl, Egoismus und das Recht werden intensiv diskutiert und auch erstaunlich starke Situationskomik von Seiten des Sokrates lockert das Ganze auf und nimmt etwas Anstrengung heraus. Als kurze und bereichernde Lektüre sehr zu empfehlen.



Die Gesamtwerke von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft

Passend zur Zeit (wenn man um den Oktober herum Schauerliteratur sucht) empfiehlt es sich, statt immer nur zu Stephen King oder modernen Krimis auch mal zu den Klassikern der Horrorliteratur zu greifen, dem großen Meister Poe und dem (fast genauso) großen Meister Howard Phillips Lovecraft. Beide bieten eine wunderbar antiquierte Wortfülle, die man heute so kaum noch findet, und machen durch eine alte Ausdrucksweise die Atmosphäre in ihren Erzählungen und Gedichten komplett. Auf dem Gebiet des Horrors bleiben beide für mich unübertroffen, statt billigen Klischees und bereits hundertmal durchgekauten immer wieder gleichen Monstern, findet man bei Poe und Lovecraft die Wurzel des Horrors, der menschlichen Angst. Poes gotische, klassische Erzählungen und Gedichte wie „Der Rabe“ oder „Die Maske des roten Todes“ und Lovecrafts trotz seiner mehr als zweifelhaften Persönlichkeit verstörende und andersweltliche Sagenwelt kosmischen Horrors kombiniert mit einer monströsen Sprachgewalt sind, gerade jetzt, atmosphärische Meisterwerke. Wenn möglich, auf Englisch zu genießen!

Die Stadt der Träumenden Bücher
von Walter Moers

Walter Moers war immer mein Lieblingsautor, und auch heute noch ist er für mich einer der Besten. Das heißt nicht, dass ich ihm die höchste literarische Qualität, die Verarbeitung der wichtigsten gesellschaftlichen Themen, die beste erzählerische Fähigkeit zuschreibe, nein, das kann und will ich sicher nicht beurteilen. Walter Moers ist jedoch der Autor, den ich mit der größten Freude lese. Selten habe ich mich von einem Buch mehr unterhalten gefühlt, selten habe ich über eventuelle Fehler mehr hinwegsehen können, als es bei „Die Stadt der träumenden Bücher“ sowie den meisten anderen fantastischen Zamonien-Romanen von Moers der Fall ist. Ich kann dieses Buch, diese Bücher, immer und immer wieder lesen, ohne dass es langweilig wird, es ist wie ein gutes Lied, das man sich in Dauerschleife anhören kann, ohne dessen müde zu werden. Walter Moers schafft es, eine humoristische Fantasywelt mit starker Erzählkunst und literarischen Anspielungen en masse zu verknüpfen, sodass das Lesen anderer Literatur den Genuss an Moers‘ Büchern signifikant verstärkt. Ich bin oft zu Moers zurückgekehrt, nur um in seinen Büchern Poe, Lovecraft oder Goethe wiederzufinden. Moers ist ohne falschen Elitarismus zugänglich und bietet unglaublich viel.

Moritz Ossmann

Freitag, 3. Juni 2022

Praktikant Mats Houken empfiehlt: Carl Meinhof. Das Leben des ersten Ordinarius für Afrikanistik

Ein Seiltanz zwischen fachlicher Anerkennung und moralischer Kritik:

Die Freie und Hansestadt Hamburg war durch ihren Hafen und die rege Handelskultur die Kolonialmetropole des noch jungen Deutschen Kaiserreichs und wurde so zum Magneten für Kolonialisten, Missionare, Afrikainteressierte, Kaufleute und Kolonialpolitiker. So kam es, dass an der gerade entstehenden Hamburger Universität, in seinen Kinderschuhen steckend noch „Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung“, ein Lehrstuhl für die neue Wissenschaft der Afrikanistik geschaffen wurde. Erster Inhaber dessen wurde der vorher in Berlin lehrende Pastor und Autodidakt Carl Meinhof; als weltweit Erster bekleidete er das Amt eines Ordinarius für Afrikanistik.

288 Seiten, 24,90 Euro

Sein Leben stellt sein wissenschaftlicher Nachfolger Ludwig Gerhardt kritisch dar, wodurch ihm der Balanceakt zwischen Anerkennung seiner Pionierarbeit einerseits und Darstellung der rassistische , nationalsozialistischen Gesinnung andererseits gelingt:

Als Pastor im preußischen Hinterland gelangt Meinhof zufällig in den Kontakt mit den afrikanischen Sprachen, die im Zuge der Kolonialpolitik des Kaiserreichs für das Gelingen der Missionarsarbeit, um den von von Bülows geforderten „Platz an der Sonne“ zu erreichen, immer wichtiger wurden. 

Insbesondere mit den Bantusprachen beschäftigt sich Carl Meinhof auf vergleichende Weise intensiv und publiziert einige wegweisende Schriften zur Grammatik und phonetischen Herkunft der Bantusprachen. Und das ohne je einen Fuß auf den afrikanischen Kontinent gesetzt zu haben. Fachliche Exkurse zur Phonetik einiger Bantusprachen bieten hierbei dem Leser einen ersten Einblick in das Gebiet der Afrikanistik, was mir und anderen Sprachinteressierten durchaus Freude bereitet. 

In seiner Heimat Zizow wird er immer mehr eine Anlaufstelle für die Ausbildung zukünftiger Missionare und hält somit die repressive Kolonialmaschinerie des Kaiserreichs mit am Laufen. Der gesteigerte Einfluss bringt ihn als Seminarleiter nach Berlin, er unterhält Bewohner der deutschen Kolonien als unfreie Assistenten und Seminarmitarbeiter und bereist schließlich mehrfach den afrikanischen Kontinent. 

Die oberste Sprosse seiner Karriereleiter soll der Lehrstuhl als Professor für Afrikanistik an der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und späteren Universität Hamburg sein, in deren Gründungsprozess man beim Lesen auch eingeführt wird.

 Inszenierung der Sprachforschung im Lager für den Fotografen.
Quelle: DHM, Nachlass W. Doegen

Schließlich zeigt Carl Meinhof sich jedoch immer rassistischer, indem er seine Afrikanistik zur Begründung einer „Überlegung der hamitischen Rasse“ zweckentfremdet, wodurch er auch seinen Ruf nachhaltig schädigte; gekrönt wird sein moralischer Verfall durch den frühen Beitritt zur NSDAP und die Unterzeichnung des Bekenntnisses der deutschen Professoren zu Adolf Hitler. 

Die kritische Beleuchtung seiner ambivalenten Person macht sich Ludwig Gerhardt mit seinem Buch zur Hauptaufgabe, die ihm hervorragend gelingt, indem er im richtigen Moment passende kritische Worte findet und so keine „Lobhudelei“ zu Meinhofs Person und Wirken zulässt, sondern seine wissenschaftliche Leistung und seine Person im aktuellen moralischen und politischen Antlitz neu bewertet.

Rezensiert von Mats Houcken (Instagram: @seitenstapler)

Das Buch auf FELIXJUDBOOKS bestellen.

Donnerstag, 7. April 2022

Johann Hinrich Claussen und "Die Sprache der Stille: Haiku"

Am Montag, den 4. April 2022, bereitete Johann Hinrich Claussen* dem Hamburger Künstler und Gestalter Patrick Gabler im Gespräch die Bühne um über dessen Haikus samt Holzdruckschnitte zu sprechen.

Darüber hinaus machte Pastor Claussen zusammen mit dem Pfarrer Ulrich Lilie* ein neues Buch Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten. Daraus stellt Herr Claussen exklusiv einen Auszug im FELIX-JUD-BLOG vor:


"Es gibt ein menschliches Grundbedürfnis nach Stille, die Sehnsucht, sich von allem menschlichen Lärm und Gedränge zu lösen, das Glück, in einem Augenblick der Ruhe ganz da zu sein.


        Nichts als die Stille!

        Tief in den Felsen sich gräbt

        Schrei der Zikaden.


248 Seiten, 18 Euro

Doch wer die Stille finden und genießen will, braucht eine Sprache für sie. Das ist kein Widerspruch. Denn wie sonst sollte man sich ihrer bewusst werden, ein inneres Bild von ihr gewinnen? Dazu taugt die grobe, laute und eilige Sprache des Alltags offenkundig nicht. Zum Glück gibt es den Haiku. Er konzentriert sich auf eine konkrete Anschauung der Natur: eine Pflanze, Tages- oder Jahreszeit, ein Tier, Duft oder Geräusch. Dies wird aber nicht ausführlich beschrieben oder poetisch ausgemalt, sondern nur aufgerufen. Der Haiku ist konsequenter Kürze, absoluter Nichtgeschwätzigkeit verpflichtet. Er besteht aus lediglich drei Wortgruppen, die zudem häufig in der Anzahl der Silben oder Wortlaute begrenzt sind: 5 – 7 – 5. Doch diese Zahlen sind nicht so wichtig. Entscheidend ist das konkrete „Ding“ und das Vertrauen, dass seine bloße Nennung genügt, um beim Leser Bilder, Erinnerungen, Stimmungen und Atmosphären lebendig werden zu lassen. So werden die Haiku beim Lesen, Auswendiglernen und Nachsprechen weitergeschrieben. So kurz sie sich fassen, so tief kann man sich in ihnen versenken, so lange in ihnen verweilen.

Das Ich, das im Haiku auftritt, ist keine einzelne Person, kein individueller Autor. Wie in den Psalmen des Alten Testaments ist das Ich auch hier die Tür, durch die man als Leser in die Verse hineingehen gehen, um sie sich zu eigen zu machen. Wer ein Haku liest, langsam und mehrfach, nimmt weniger einen Text zur Kenntnis, als dass er sich von ihm in eine meditative Besinnung über eine Erscheinung der Natur führen lässt, in der sich sein innerstes Selbst spiegelt.


        Traurigkeit in mir,

        einsam ist es geworden – 

        der Ruf des Kuckucks.


So in sich versunken ein Haiku erscheint, ist er dennoch ein stilles Gespräch und auf andere Menschen bezogen, die ihn jeweils für sich lesen, ihm nachfolgen auf einem Weg zu den Wurzeln des Seins. Selbst als Europäer des 21. Jahrhunderts kann man sich von einem klassischen japanischen Haiku anrühren lassen. Natürlich geht in der Übersetzung von einer Sprache, Kultur und Epoche zur anderen vieles verloren: der Klang und die Bedeutungsnuancen der Wörter, die Fülle der möglichen Assoziationen, die Einbettung in ein kulturelles Leben, nicht zuletzt das Schriftbild – der leichte Schwung der getuschten Zeichen und ihre vertikale Anordnung. Aber was die Übertragung überlebt, genügt auch heute noch, um sonst so gehetzte, zerstreute Menschen für einen Moment in die Stille zu führen.

Das zeigen zum Beispiel die hier vorgestellten Haiku von Matsuo Bashō (1644 bis 1694), dem wohl berühmtesten Haiku-Dichter. Er lebte in einer gänzlich anderen Welt: Aus einer Samurai-Familie stammend, hatte er sich entschieden, kein Krieger zu werden, sondern sich als buddhistischer Mönch und Pilger ganz der geistlichen Dichtung zu widmen. Es gibt in den asiatischen Hochkulturen, vor allem Japans und Chinas, eine lange Tradition eines solchen Rückzugs aus dem politischen und militärischen Leben in eine arme, aber künstlerisch erfüllte Abgeschiedenheit. Neben vielen Gedichten zeugen ungezählte Landschaftsbilder davon. Dieser Rückzug hat allerdings wenig Beschauliches, oft war er die Folge politischer Umwälzungen und Katastrophen, eine erzwungene Flucht in die Einsamkeit.

Bashōs Verse sind nicht in den engen Grenzen einer bestimmten Sprache, literarischen Tradition, religiösen Kultur oder politischen Situation gefangen geblieben, sondern weit in die Welt hinausgezogen und haben viele, auch moderne Dichter Europas oder Nordamerikas inspiriert, eigene Haiku zu verfassen. Vor allem aber können sie immer noch Menschen, ob künstlerisch begabt oder auch nicht, ob buddhistisch oder christlich – sogar die, die sich selbst als nicht-religiös bezeichnen würden –, dazu bringen, sich auf etwas Schönes und Wesentliches zu konzentrieren, aufmerksam zu werden für das Leben selbst, ruhig und wach zugleich, einfach da zu sein, ganz bei sich und über sich selbst hinaus. Und auf einmal fehlt nichts mehr.


        Einsamkeit. Niemand

        Will zu mir kommen, nur ein

        Blatt vom Kiribaum."


--> Das Buch auf FELIXJUDBOOKS bestellen.


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*Johann Hinrich Claussen, geboren 1964 in Hamburg, Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen, Hamburg und London, anschließend Promotion und Habilitation in Systematischer Theologie. Publizistische Arbeiten zu kulturtheologischen Themen für deutsche Zeitungen, Zeitschriften und Radioprogramme. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zum Beispiel über die Geschichte des Kirchbaus und der Kirchenmusik. Nach Stationen als Pastor, dann als Propst und Hauptpastor in Hamburg, ist Dr. Johann Hinrich Claussen seit dem 1. Februar 2016 Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.


*Pfarrer Ulrich Lilie, geboren 1957, ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung und seit 2021 Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). 2011 bis 2014 war er Theologischer Vorstand der Graf Recke Stiftung Düsseldorf. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger und Gemeindepfarrer mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus. Vier Jahre versah er außerdem das Amt des Superintendenten des Evangelischen Kirchenkreises Düsseldorfs. Lilie studierte als Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst evangelische Theologie an den Universitäten Bonn, Göttingen und Hamburg und wurde 1989 zum Pfarrer ordiniert.

Freitag, 25. März 2022

Ernst Jünger und die Abwicklung des postheroischen Mannes

Der russische Krieg gegen die Ukraine lässt uns erschrocken zurück. Und wir staunen, wie schnell sich manche, als sicher geglaubte politische Haltung in ihr Gegenteil verkehrte. Als KZ-Häftling hat sich unser Firmengründer Felix Jud (1899-1985) stets um Friedensbelange gekümmert. Er gehörte u.a. der Jury des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an. Nun herrscht Krieg in Europa. Es gibt einen klaren Angreifer und Feind. Was hätte man vorher tun können? Die Politik? Wir? 

In einer Buchhandlung wie Felix Jud laufen viele Stränge des geistigen und politischen Lebens zusammen: Als Celebrity und Weltstar-Boxer war Vitaly Klitschko 2001 bei uns zu Gast. Nun ist er eine Figur, wie aus einem Film, ein Kraftmensch, ein für seine Nation kämpfender Heroe. Und der mit unserer Buchhandlung verbundene ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi vertritt in der Frage nach den Kriegsgründen einen anders justierten Blick als die Mehrheit.

Das Bedürfnis nach Gespräch ist da und so veranstalteten wir am 17. März einen offenen Gesprächsabend zur aktuellen Lage. Wir stellten literarische Titel und Sachbücher zur Thematik vor. Der Journalist Daniel Haas hielt einen Vortrag, der im Anschluss, unter anderem mit reger Beteiligung des aus Berlin angereisten Journalisten Alexander von Schönburg, lebendig von allen Anwesenden diskutiert wurde. Der aktuelle Krieg ist für Daniel Haas nicht nur eine politische Zäsur sondern auch eine kulturelle Denkwende. Gelten alte Kategorien von links und rechts noch? Wäre nicht Ernst Jünger, hätte er noch einmal 100 Jahre gelebt, heute ein Linker? 

Wir danken Daniel Haas sehr für seinen Input und die Genehmigung seinen Text hier exklusiv veröffentlichen zu dürfen. 


Bücher zu den schrecklichen Geschehnissen und zur ukrainischen wie russischen Kultur und Politik finden Sie bei uns am Neuen Wall. In einer Spendenbox werden Münzen und Scheine gesammelt, die an den Malteser Hilfsdienst weitergereicht werden.


Foto: die jugendlichen Klitschko-Brüder in der Ukraine – jetzt Freiheitshelden des Westens

Vortrag von Daniel Haas

Eine Frage an die Kulturkritik: Wie wird die ästhetische Sphäre auf die aktuelle Lage in Europa reagieren? Beziehungsweise: Gab es ästhetisch verfasste Vorboten dieses Krieges, der neben einer politischen Neujustierung Westeuropas auch einen gesellschaftlichen Kulturwandel zur Folge haben wird?

Die Kunst als Kassandra, als Diagnostikerin, die avant la lettre die Verhältnisse einem breiteren Verstehen zugänglich macht, das ist ein alter Topos. Der 2014 verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat historisch gewordene Texte gern in dieser Hinsicht intellektuell bewirtschaftet. So las er beispielsweise Thomas Mann und projizierte zu Beginn der nuller Jahre dessen Kritik der bürgerlichen Welt auf eine Gegenwart, die ihrerseits Probleme mit der Idee von Bürgerlichkeit bekommen hatte. 

Ich möchte dieses Verfahren anwenden und einen Künstler zu Rate ziehen, dessen ästhetische Praxis meiner Ansicht nach einiges klarstellen kann, wenn es um das Begreifen der aktuellen Lage geht.

Mit aktueller Lage meine ich vor allem die Abwicklung des postheroischen Subjekts. In den Bombenkellern von Kiew ist die linksliberale Idee von einer ewig pazifistischen Staats- und Kulturräson an ihr sehr schmerzhaftes Ende gelangt. 

Putin zwingt uns, Abschied zu nehmen von der Idee, das wehrhafte Subjekt sei einer Sache für Freunde der Militärgeschichte oder Fans antiker Männlichkeitsideale aus dem Geiste Roms und Spartas. 

Einhundert Milliarden Euro für die Aufrüstung eines Landes, das sich qua Geschichte eigentlich für eine tausend Jahre währende Regentschaft grün-woker Liberaler qualifiziert hatte, das ist schon was. 

Für mich, der es wenigstens zum Obergefreiten der Luftwaffe gebracht hat, ist es jedenfalls spooky, um ein neudeutsches Modewort zu gebrauchen, wenn ich mir vorstelle, am Radarschirm russische Kampfjets im deutschen Luftraum zu markieren, die in der Folge von deutschen Kampfjets bestenfalls aus dem hiesigen Hoheitsgebiet hinausbegleitet, schlimmstenfalls aber angegriffen werden.

Die Medien haben die kulturkämpferischen Signale – denn das ist es, was uns meiner Meinung nach ins europäische Haus steht: ein sich noch weiter zuspitzender Kulturkampf – die Medien haben dieses Signale nicht nur registriert, sondern ihrerseits verstärkt und versilbert. Selenskij und die Klitschko-Brüder werden so offen als Helden ausgewiesen wie weiland Stauffenberg oder Elser. Das geht in Ordnung. Man braucht Mut, Schneid, eine gewisse Todes- und Leidensverachtung sogar, wenn man sich als schwer reicher, eigentlich im sicheren Ausland lebender ukrainischer Spitzensportler zurück nach Kiew begibt, um dort eventuell das Zünglein an der wild kippelnden Weltwaage zu sein. 

Ernst Jünger, der mit 17 zur Fremdenlegion abhaute, um dann von seinem Vater mit einiger Mühe zurückgeholt zu werden, hätte das sofort verstanden. Und deshalb möchte ich Jünger als jenen Gewährsmann für ein der Zeit angemessenes Denken in Anspruch nehmen, von dem ich eingangs gesprochen habe.

An welcher Stelle in seinem Werk berichtet uns dieser Autor also von unserer postheroischen Gegenwart? Welcher Text ist geeignet, uns die Signatur des katastrophalen, verwirrenden Jetzt wenigstens ansatzweise aufzuschlüsseln?

Es ist ein Capriccio aus dem „Abenteuerlichen Herzen“. Das Stück findet sich nicht in der Ersten Fassung, die Klett Cotta dankenswerter Weise sogar als Taschenbuch zugänglich gemacht hat. 

Die Erste Fassung des Abenteuerlichen Herzens ist übrigens, wie mir beim Wiederlesen klar wurde, ein politisch so brutaler Text, ein selbst gegen die eigenen intellektuellen und moralischen Schwächen des Autors so gnadenlos verfahrendes Stück Weltliteratur, dass einem mulmig werden kann. Wenn so ein bis an die Schmerzgrenze des Nihilsmus aufgeklärter Konservatismus zu klingen hat, dann müssen wir uns alle sehr warm anziehen (ein Tweed-Sakko und ein Lodenmantel werden nicht reichen).

Der Text, den ich meine, hat den lakonischen Titel: 

Das Entsetzen

„Es gibt eine Art von dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen 
übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen, sondern durch eine sperrige Vorrichtung voneinander entfernt gehalten sind. 

Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzest auf das zweite Blatt, das ebenfalls und mit heftigerem Knalle zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung des Falles läßt die Schläge in einer Beschleunigung aufeinanderfolgen, die einem an Tempo und Heftigkeit anwachsenden Trommelwirbel gleicht. 

Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, der endlich die  Grenzen des Bewußtseins sprengt. 

So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen - das Entsetzen, das etwas ganz anderes ist als das Grauen, die Angst oder die Furcht. Eher ist es schon dem Grausen verwandt, das das Gesicht der Gorgo mit gesträubtem Haar und zum Schrei geöffnetem Munde erkennt, wahrend das Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade deshalb von ihm mit mächtigerem Griff gefesselt wird. Die Furcht ist noch von der Grenze entfernt und darf mit der 
Hoffnung Zwiesprach halten, und der Schreck — ja, der Schreck ist das, was empfunden wird, wenn das oberste Blatt zerreißt. Und dann, im tödlichen Sturze, steigern sich die grellen Paukenschläge und roten Glühlichter, nicht mehr als Warnungen, sondern als schreckliche Bestätigungen, bis zum Entsetzlichen. 

Ahnst du, was vorgeht in jenem Raume, den wir vielleicht eines Tages durchstürzen werden und der sich zwischen der Erkenntnis des Unterganges und dem Untergang erstreckt?“

Ich glaube, dass das postheroische Subjekt in die Phase dieses von Jünger präzise beschriebenen Entsetzens eingetreten ist. Ich denke, dass Klitschko solch ein entsetztes Bewusstsein von der Lage haben muss, um die Stahlgewitter von Kiew zu ertragen. Ob sie sich überstehen lassen, auch diese Frage kann ohne ein Know-how des Entsetzens nicht angemessen gestellt werden.

Die Weltlage, ganz konkret Putin, haben uns auf das oberste Blech emporgehoben. Die ersten Bomben, die auf Kiew fielen, haben den Donnerwirbel eingeleitet, der uns nun täglich in allen Medien umbraust.

Die Gorgo eines dritten Weltkriegs hat ihr Maul bereits zum Schrei geöffnet, und wie Perseus, der das Monstrum nur indirekt, im Blick auf seinen spiegelnden Schild, zu fassen bekommt, suchen wir nach der indirekten, diplomatischen Lösung.

Dem abgeschlagenen Haupt der Gorgo Medusa entspringt der Pegasus, das Wappentier der Kunst. „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“ wird Rilke später dichten. Das Schöne, dass den Schrecken dieses europäischen Krieges entspringt, was soll das sein? Eine neue pazifistische Weltordnung, in der Russen, Amerikaner, Chinesen und Europäer gemeinsam Eckart Tolle lesen und vegane Ernährung zum Klassenziel einer aufgeklärten bürgerlichen Existenz erklären? Ich glaube das nicht. Und Jünger hätte es wohl auch nicht geglaubt.

Bemerkenswerterweise glauben es auch die Kids und Jugendlichen nicht, die sich täglich mit Gangsta Rap beschallen, mit einer Hingabe, die dem Genre die größten Streaming- und Verkaufszahlen aller Popgenres beschert. Bushido, Fler, Haftbefehl, Kollegah: alles Männer, die vom linksliberalen Zeitgeist so viel halten wie ein Redneck von der Homoehe. 

Wenn auch für moderne Gemeinschaften gilt, was Freud erklärt hat, dass nämlich das Verdrängte wiederkehrt, dann ist die Begeisterung der Mittelschichtsjugend, (und der migrantischen Jugendlichen) für diesen derben, alle Rollenklischees rearrangierenden HipHop ein sicheres Indiz dafür, dass das genderfluide, auf Achtsamkeit geeichte, Grün wählende und empfindende Subjekt nicht die ultima ratio gesellschaftlichen Handelns darstellt.

Wovor ich tatsächlich Angst habe: Dass wir bereits jenen Raum durchstürzen, „der sich zwischen der Erkenntnis des Unterganges und dem Untergang erstreckt“. Sie mögen mir dies als apokalyptisch verzerrtes Bewusstsein auslegen, womöglich als intellektuellen Narzissmus, der sich freut, seine dekadenten Ideen von „Verfeinerung, Abstieg und Trauer“, diese Trias stammt von Benn, dem alten Verfallspoeten, diesen dekadenten Akkord genüsslich anzuschlagen. 

Aber das oberste Blech ist zerrissen, und selbst wenn wir uns heute noch in der Phase des Schrecks, wie Jünger ihn darstellt, befinden sollten - das Entsetzen macht sich breit. 

Womöglich war es immer schon da, als Bewusstsein der politischen Linken, die nicht müde werden uns zu sagen, wir sollen aufhören mit der Klimazerstörung, mit der kapitalistischen Ausbeutung. Womöglich aktualisiert es sich in den Kundgebungen und Aufmärschen der Fridays-For-Future-Kids, mit ihrem Pathos, das so naiv und aufdringlich wirkt, dass man leicht vergessen kann, dass sie die Wissenschaft auf ihrer Seite haben. Wir stürzen dem Untergang entgegen, das ist ein Faktum, nicht fake news.

Vielleicht wäre Ernst Jünger ein Linker geworden, hätte er nochmal 100 Jahre zu leben gehabt. Schirrmacher verabschiedete sich offiziell in der FAZ von den Konservativen. Lorenz Jäger, lange der Vorzeige-Rechte der konservativen Intelligenz, ebenfalls. Im FAZ-Feuilleton ist einer der markantesten Kulturkritiker heute ein Marxist namens Dietmar Dath. Jünger, so meine Vermutung, hätte lieber mit Dath diskutiert als mit Götz Kubitschek. 

„Ein Mensch von Rang sollte sich lieber in böse als in schlechte Gesellschaft begeben, weil Rang und Wert nur in der tragischen, nicht aber in der sozialen Welt zusammenfallen, in der vielmehr die Zahl die Rolle des Wertes übernimmt.“
So schreibt Jünger im Jahr 1929 in der Ersten Fassung des „Abenteuerlichen Herzens“.

Die tragische Welt ist die des Helden, jenes Akteurs, der die postheroische Phase zu beenden scheint. Wer sind die Bösen, deren Gegenwart der ranghohe Mensch nun aufzusuchen hat? Ist es Putin, der redliche Irre, dessen ideologisches Projekt im Zivilisationsbruch enden könnte? Oder ist es für uns Konservative der linke Sozialist Bernie Sanders mit seinen radikalen Umverteilungsplänen, ein ordentlicher Gegner, wie Schmitt gesagt hätte, denn der Sozialist ist für den Konservativen „die Frage nach dem Eigenen als Gestalt“?

Ich möchte lieber mit Sanders zu Abend essen als mit Putin, ganz klar. Mit Jünger kann ich nur noch durch seine Texte kommunizieren. Das Zwiegespräch mit Ernst Jünger sollte nicht aufhören, woker Zeitgeist hin oder her. Das postheroische und auch das heroische Subjekt, sie können von einer Aussprache mit diesem Autor nur profitieren.