Montag, 20. April 2020

Die Trüffelbücher der „Leseschweine“

Marcus Dahmke im Gespräch mit Dr. Susanne Schüssler, Verlegerin bei Wagenbach, über die SALTO Reihe.

Seit 1987 gibt es bei Wagenbach die Buchreihe SALTO, die John Berger vor einigen Jahren als „die schönste Buchreihe der Welt“ bezeichnet hat. Doch was macht diese Reihe, die bei den Lesern durch ihr schlankes Format, den roten Leineneinband mit aufgeklebtem Schild und ihrer außergewöhnlichen Themenvielfalt bekannt ist, eigentlich so besonders? Mit Dr. Susanne Schüssler zusammen habe ich mich auf Spurensuche durch die vielfältige Geschichte der Reihe begeben.

Dahmke: Liebe Frau Schüssler, bei Ihrem Interview mit Christian von Zittwitz für die Zeitschrift Buchmarkt sagten Sie, „kein Leseschwein würde momentan Alan Bennetts neues Buch Der souveräne Leser in den Buchhandlungen in die Hand nehmen und sehen können.“ Würden Sie die SALTO Reihe, in der die zuvor genannte Essaysammlung erschienen ist, als Trüffelbücher für „Leseschweine“ bezeichnen wollen?

Schüssler: Nun, das bezog sich auf die wegen Corona geschlossenen Buchhandlungen. Und: JA! SALTO-Bändchen sind Verführungen. Das Tolle ist, im Schutz der beliebten Reihe lassen sich hin und wieder Titel vorstellen, die anderswo untergehen würden. Nach dem Prinzip: Die Reihe kenne ich, da habe ich dieses witzige Buch gelesen und schon mehrfach erfolgreich verschenkt, mal sehen, was das sein mag, „Ich bin ein Laster“ von Michelle Winters. Aber wir müssen vorsichtig sein: Enttäuschen wir einen solchen Vertrauensvorschuss, ist die Reihe gefährdet.


Dahmke: Nicht nur Texte aus der Literatur sind bis dato erschienen, sondern auch Bücher aus den Bereichen Kochen, Kunst und Kultur. Außerdem gibt es die sehr gefragten literarischen Einladungen, die „Städteführer“ der besonderen Art. Welche Rolle spielt die Themenvielfalt der Reihe?

Schüssler: Anfangs war diese Vielfalt noch nicht geplant, die Reihe inhaltlich nicht festgelegt. In über 30 Jahren verändern nicht nur der Verlag und seine Lektoren die Ausrichtung so einer Reihe, sondern auch die Leser mit ihren Interessen. Das gilt übrigens nicht nur für die Inhalte, sondern auch für die Gestaltung. SALTO ist nicht einfach SALTO: Im Lauf der Zeit hat sich die Reihe immer wieder sachte ,modernisiert‘, das heißt den Sehgewohnheiten angepasst. Die Schriften änderten sich ebenso wie die Größe und Einrahmung der Schildchen, die Motive. Die knifflige Aufgabe für den Verlag ist: einerseits die Wiedererkennung zu bedienen und andererseits die Neugier für Unbekanntes anzufachen.


Dahmke: Wie wichtig ist in der Hinsicht die Zusammenarbeit mit der Druckerei?

Schüssler: Sorgfältige Herstellung ist enorm wichtig, und macht obendrein viel Freude: die individuell gewählte Typografie, schöne Proportionen, keine Trennungen von einer rechten auf eine linke Seite usw. Genauso wichtig ist die Produktion: Wir lassen SALTO bei einer hervorragenden Druckerei im Allgäu herstellen. Dort werden die Schildchen übrigens mit Hand aufgeklebt. Zuerst wird die Klebefläche mit einer Bildprägung „tiefer gelegt“, damit sich hinterher die Ecken des Schildchens nicht abrubbeln. Eine gute Mischung von Handwerk und industrieller Fertigung.


Dahmke: Gibt es eine Geschichte zur Farbe Rot?

Schüssler: Oh ja. Die Ursprungsidee war: die ersten Bücher rot, die zweite Lieferung gift-grün, gefolgt von lila etc. Ein Glück, dass es bei ROT geblieben ist.


Dahmke: Warum steht das SALTO A Kopf?


Schüssler: Das A macht vor, was die ganze Reihe will: Gedanken- und Luftsprünge.


Dahmke: Eine für mich persönlich sehr wichtige Frage: Mehr und mehr Verlage verzichten auf den Leineneinband... müssen wir uns um die SALTO Reihe und um den Leineneinband Sorgen machen?

Schüssler: Moden kommen und gehen. Als SALTO in den 80er Jahren anfing, gab es so gut wie keine Leinenbücher, überhaupt taten sich die 70er Jahre durch alles Mögliche hervor, aber nicht durch lesbare und schöne Bücher. Die Druckerei, wo SALTO zunächst produziert wurde, schaffte eine Maschine an, die die Schildchen aufkleben konnte. Die musste dann ausgelastet werden und überall tauchten plötzlich Bücher mit aufgeklebtem Schild auf…

Mein Eindruck ist, dass der Markt derzeit alle möglichen Geschmäcker bedient: vom teuer ausgestatteten Schmuckband bis zur mit sorgfältigem Understatement gemachten Steifborschur und dazwischen alle möglichen wilden Mischungen. Sorgen? Nein. Das sind Wellenbewegungen und manchmal ist auch etwas wirklich Neues dabei, was vorher maschinell einfach nicht zu machen war.


Dahmke: Um noch einmal auf das Interview zurückzukommen: nicht nur sehen und in die Hand nehmen, auch beschnüffeln?! Sollen bei SALTO so viele Sinne wie möglich angesprochen werden?

Schüssler: SALTO ist nicht nur eigens eingefärbtes Leinen, durchgefärbtes Vorsatzpapier, passendes Kapitalband und Fadenheftung, aufgeklebtes Schildchen, geprägte Schrift, SALTO ist auch schönes Papier, gute Druckqualität – mit einer Druckerschwärze, die gut riecht.


Dahmke: ... und eine Geschenkbuchreihe. Was ist gegenüber von anderen Verlagen das Besondere an SALTO als ein Geschenkbuch?

Schüssler: Soweit ich sehe, gibt es eine so hochwertige Ausstattung in keiner anderen Geschenkbuchreihe. Das wichtigste aber: es ist eben keine Backlistreihe, in der erfolgversprechende Titel verwurstet werden. Etwa die „Literarischen Einladungen“ zusammenzustellen ist höchste Anthologisten-Kunst: Es soll ja nicht nur das Portrait eines Ortes, seiner Bewohner und Eigenheiten entstehen, sondern gleichzeitig ein Überblick über die jüngere dort entstandene Literatur gegeben werden.

Mein herzlicher Dank gilt Dr. Susanne Schüssler für den Blick in die Geschichte der SALTO Reihe!


Lektüre-Tipp:

Alan Bennett: Der souveräne Leser.


In dieser neuen Textsammlung, die sowohl autobiografische Essays als auch persönliche Lesetagebücher vereint, begibt sich der Leser mit Bennett zusammen auf Streifzüge durch die Natur und die Literatur. Mit der Erkenntnis: Gras ist nicht gleich Gras! Kommt Ihnen das kafkaesk vor? Dann lesen Sie nach!




Montag, 6. April 2020

Die Auferstehung des historischen Romans: Hilary Mantels Tudor-Trilogie

Im Gespräch mit Annette Weber, Lektorin und Programmleiterin Belletristik bei DuMont

Im Mai 2010 schrieb der englische Romancier Alan Bennett in sein Lesetagebuch:
„Bin kurz vor dem Ende von Hilary Mantels Wölfe, dem ersten von zwei Romanen über Thomas Cromwell. Eine monumentale Arbeit, prächtig und anschaulich und vor Leben strotzend [...]“ (Bennett: Der souveräne Leser, Wagenbach, S. 130). 
Jetzt, 10 Jahre später, sind aus zwei Romanen sogar drei geworden und die beispielslose Erfolgsgeschichte, die 2009 mit der Veröffentlichung von Wolf Hall bei Fourth Estate in London begann, findet nach über 2000 Seiten, bisher zwei Booker-Preisen (jeweils für die ersten beiden Bücher Wölfe (dt. von Christiane Trabant) und Falken (dt. von Werner Löcher-Lawrence)) und wichtigen anderen Auszeichnungen mit Spiegel und Licht (dt. von Werner Löcher-Lawrence) einen fulminanten Abschluss. Die Rede ist natürlich von Hilary Mantels Tudor-Trilogie, die in deutscher Übersetzung im DuMont Verlag erschienen ist. 

Mantels Trilogie bringt alles mit, was den historischen Roman seit jeher ausgezeichnet hat: eine Fülle an historischen und literarischen Personen und verschiedenen detailreich gestalteten Handlungsorten, alles zur Zeit von Henry VIII. in einem England Anfang des 16. Jahrhunderts. 
Mantels Romane seien aber mehr als einfache Abbilder einer vergangenen Zeit, versichert Annette Weber und gesteht, dass sie bisher nur wenige historische Romane mit Begeisterung gelesen hat. „Der historische Roman, der ja auch in den letzten 10, 15 Jahren sehr beliebt war, hatte in der Zeit nicht den Ruf, literarischen Kriterien zu entsprechen. Hilary Mantel hat dieser Gattung wieder ,eine Heimat in der Literatur gegeben‘“, wie sie mit dem Hinweis auf einen Artikel der F.A.Z. erklärt. „Der historische Roman kann dem Leser eine ferne Welt nahebringen. Wenn ein Autor, eine Autorin sich, so wie es Mantel tut, nicht der vergangenen Zeit anbiedert, sondern modern erzählt, dann sieht man nicht nur die Unterschiede zu dieser, sondern auch die Gemeinsamkeiten mit dieser Zeit.“ 
Genau das sei ihr bei der Redaktion immer bewusster geworden. „Wie damals Politik gemacht wurde, wie einer seine Macht, seinen Einfluss ausgeübt hat, mit dem einen paktiert und den anderen ausgebootet hat, das alles unterscheidet sich sicherlich sehr wenig von der heutigen Welt der Politik. Die zum Glück weniger blutig ist als damals“, betont sie. Mantels Darstellung der Machtkämpfe am Hofe Henrys VIII. findet sie sehr modern. Das Vorgehen, Taktieren, die Fragen der verschiedenen Figuren seien nicht befremdlich, sondern eher vertraut. „Mir kam oft die Haltung der Engländer zu Europa und der Brexit in den Sinn. Der Eigensinn, der darin liegt, ist für mich schwer nachvollziehbar, aber wenn man diese Trilogie liest, versteht man ihn besser. Sich gegen den Papst zu stellen, war in der damaligen Zeit ein gefährliches Unterfangen, aber Henry VIII. hat es getan, was ihm ohne Cromwell vermutlich nicht gelungen wäre. Damals wurde der Grundstein gelegt für den Aufstieg Englands und auch den Siegeszug der englischen Sprache. Die Darstellung all dessen ist das Faszinierende und Besondere an Mantels Trilogie: Man ist mittendrin in der Weltgeschichte und spürt sie heute noch.“ Und das besonders durch die Figur von Thomas Cromwell. Mantel sei es gelungen, aus dieser historischen Figur einen Menschen aus „Fleisch und Blut“ zu schaffen. „Man sieht einen Machtmenschen, der völlig rücksichtslos nur seinen Aufstieg vor Augen hat, der strategisch klug und gerissen seine Ziele verfolgt. Er arbeitet mit Drohung, Bestechung, Charme und schickt andere aufs Schafott, wenn sie ihm im Wege sind. Zugleich zeigt die Autorin seine große Einsamkeit, seine Ängste und Zweifel, die ewige Schmach seiner Herkunft, die Demütigungen, die erschreckende Abhängigkeit von Henry VIII. Durch ihre besondere Erzähltechnik kommt einem diese Figur so nahe, so dass ich ihn nicht nur als gefühllosen Machtmenschen sehen kann. Sein ganzes Verhalten ist in seiner Herkunft, seinem Werdegang, seinen Lebenserfahrungen begründet, so dass ein Schwarz-Weiß-Urteil verhindern würde, etwas zu begreifen und zu erkennen, für sich, für die Welt, in der man lebt.“, erklärt Annette Weber.
Ebenso wie Bennett weist auch Annette Weber auf die unglaubliche Rechercheleistung hin, die Hilary Mantel für die Romane betrieben hat. „Man muss bei einem Roman immer auf Genauigkeit achten; und bei diesem Genre ist die historische Genauigkeit natürlich ausschlaggebend. Alles, was belegbar ist, muss stimmen. Hilary Mantel ist aber auch in diesem Punkt eine Ausnahmeautorin: Sie kennt sich bis ins kleinste Detail aus.“ Jede Stichprobe hätte das belegt. Zumindest fast! „Einer der Heiratskandidaten für Henrys Tochter Mary war ein deutscher Herzog. Mantel nennt ihn Philipp, Herzog von Bayern. Er war aber ein Herzog von Pfalz-Neuburg. Auf Nachfrage bei der Autorin habe ich erfahren, dass sie ihn bewusst als Herzog von Bayern bezeichnet hat, da dem englischen Leser Pfalz-Neuburg nichts sage. In der deutschen Ausgabe ist Philipp natürlich ein Herzog von Pfalz-Neuburg.“ Viele Fragen zum Text hätten sich aber bereits während der Übersetzung ergeben. Da der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence und Hilary Mantel sich kennen, konnte Annette Weber viele Frage direkt mit ihm besprechen. 
Auf die Frage, ob sie eine Lieblingsfigur während ihrer Arbeit am Text gewonnen hätte, antwortet sie: „Ich glaube, da geht es Lektoren und Lektorinnen wie allen Lesern. Man hat immer eine Lieblingsfigur. Meine ist ganz klar Thomas Cromwell. Es gibt in diesem Roman seitenweise Passagen, die so ergreifend sind, dass ich fast meine Arbeit des Redigierens vergessen hätte. Ich habe, obwohl er unendlich grausam sein konnte, mit ihm mitgefiebert. Man weiß ja, wie Cromwells Leben endete, aber ich ertappte mich dabei, dass ich hoffte, dieser Autorin würde es gelingen, die Geschichte umzuschreiben, und er würde nicht auf dem Schafott landen.“ 
Zwei Mal hat Mantel den Booker Preis für die beiden Vorgängerromane bereits erhalten, der dritte scheint, laut vielen Kritikern, nicht fern. Bei der Arbeit hätte Annette Weber nicht über die Möglichkeit des 3. Preises nachgedacht. Aber nach der Redaktion stand für sie fest, dass Hilary Mantel den Booker zum 3. Mal bekommen wird, ja bekommen muss! 
Ich schließe mich dieser Meinung nach der Lektüre nur zu gerne an.
Marcus Dahmke
P. S. Für alle, die sich aufgrund der Figurendichte bisher gescheut haben, die Geschichte um Thomas Cromwell zu lesen, spricht Annette Weber eine Entwarnung aus: Wenn man die Bücher von Beginn an liest, würde man die wichtigsten Figuren sowieso nach und nach kennenlernen, meint sie. Und verliert man nach längeren Lesepausen doch mal den Überblick, lohnt ein Blick auf das Personenregister und die Stammbäume, die sich am Ende der Romane befinden.  

Mein herzlicher Dank gilt Annette Weber! Danke für die unkomplizierte Kommunikation und das Engagement für den Blog.
Bedanken möchte ich mich ebenfalls beim Wagenbach Verlag, der uns den Text von Alan Bennett in der Übersetzung von Ingo Herzke zur Verfügung gestellt hat und bei Jörn Schulze-Kroschel, dessen Dame das Foto ziert.