Donnerstag, 17. Dezember 2020

 

„FERTIG! mein Alter!“ [1]

Marcus Dahmke sprach mit der Übersetzerin und Herausgeberin Elisabeth Edl über Gustave Flaubert und empfiehlt für die weihnachtliche Lektüre die von ihr jüngst übersetzten Lehrjahre der Männlichkeit.

Dahmke: Liebe Frau Edl, um mit einer unkonventionellen Frage zu starten: Madame Bovary oder die Lehrjahre? Darf man sich als Übersetzerin zu einem Lieblingstext bekennen und sich einem der großen Romane zuordnen? Oder sollte man sich seine Neutralität bewahren?

Edl: Nein, man muss sich überhaupt nicht neutral verhalten, kann es auch gar nicht! Und deshalb steckt man vielleicht auch am stärksten in dem Buch drin, in den Figuren, in den Szenen, an denen man gerade arbeitet. Aber auch mit einem gewissen Abstand gibt es immer noch persönliche Vorlieben. Madame Bovary oder die Lehrjahre? Da entscheide ich mich für die Lehrjahre: sie sind das vielschichtigere, kompliziertere Buch, breiter angelegt, enthalten eine Fülle von Leben, also von ganz unterschiedlichen Leben, Lebensversuchen. Ein Buch über eine Epoche, eine ganze Welt, ein großes Panorama, unerschöpflich. Aber wie so oft, wenn sich zwei streiten, darf sich der dritte freuen: den Drei Geschichten gehört meine besondere Zuneigung, weil sie so konzentriert sind, so unglaublich fein und poetisch gearbeitet. Und das Dienstmädchen Félicité, ganz besonders ihr weltberühmter Papagei Loulou sind nicht umsonst sprichwörtlich geworden für Flaubert – unvergesslich.



Dahmke: Im Herbst ist die Neuübersetzung der Éducation sentimentale bei Hanser erschienen. Zuvor sind bereits Madame Bovary und die Drei Geschichten erschienen, die Sie ebenfalls ins Deutsche übertragen haben. Was waren und sind die Schwierigkeiten bzw. Hürden bei der Übersetzung von Flaubert?

Edl: Der Stil. Die Sprache Flauberts. Das, womit er sich selbst am meisten herumgeplagt hat. Flaubert wollte nicht einfach nur eine Geschichte erzählen, einen Roman, eine spannende Handlung, seine Idee war es, ein Kunstwerk zu schaffen, am liebsten „ein Buch über nichts“, das nur durch seine Sprache, durch den Stil existiert. Das ist natürlich total übertrieben, aber trotzdem war sein einziges Ziel die Kunst. Denken Sie zum Beispiel an Madame Bovary, eine durchschnittliche Arztgattin hält sich zwei Liebhaber, immerhin nacheinander, ruiniert die Ehe, die Familie und bringt sich um. Trivial. Das hätte ein x-beliebiger Dienstmädchenroman werden können, wovon es Hunderte gibt. Flaubert aber hat Jahre damit verbracht, damit es kein Dienstmädchenroman wurde. Er wollte beweisen, dass es eine triviale Handlung gar nicht geben kann, wenn der Stil allerhöchsten Ansprüchen genügt. Und wenn Sie mich fragen, was die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen sind, dann wäre die Antwort kurzgefasst: Flauberts Anspruch muss auch in der deutschen Sprache erfüllt werden.

Foto: D. P. Gruffot



Dahmke: Bei der Éducation sentimentale war u.a. die Titelfindung mit einigen Überlegungen verbunden. Wie kam es zu den Lehrjahren der Männlichkeit und welche Rolle hat Goethes Wilhelm Meister für Flaubert und den neuen deutschen Titel gespielt? (Ist die Ironie zurück im Titel?)

Edl: Das Problem liegt im Adjektiv „sentimentale“; die bisherigen Übersetzungen variieren hier die Begriffe „Herz“, „Empfindsamkeit“, „Gefühl“. Im Grunde stimmt das aber alles nicht, es geht nicht nur um Gefühle, es geht um den gesamten Charakter eines jungen Mannes, der erwachsen werden soll. Es geht also um Charakterbildung. Damit sind wir bei Goethe, der einen großen Einfluss bereits auf den jungen Flaubert hatte. Und da lag es für mich sehr nahe, durch den Begriff „Lehrjahre“ – den es übrigens auch in früheren Übersetzungen schon gabauf diese Verbindung zu verweisen.

Dahmke: Madame Bovary kann als Fallgeschichte gelesen werden, die Lehrjahre wiederum als Roman einer ganzen Generation. Sie erwähnen in Ihrem Nachwort den Begriff des Bildungsromans, den ebenfalls Goethe mitgeprägt hat. Tatsächlich verfolgen wir den Protagonisten Frédéric Moreau auf seinem Weg im und um das politisch umkämpfte Paris der 1840er Jahre. Ein Weg zu moralischer Erkenntnis, zu tiefen Einsichten in die Liebe, die Gesellschaft, ins Leben... Oder doch nicht?!

Edl: Da komme ich zurück auf die Frage der Ironie, die ich Ihnen noch nicht beantwortet habe. Denn ohne diese Ironie ist bei Flaubert die Frage nach dem Bildungsroman gar nicht zu beantworten, also die Frage nach der Entwicklung, nach den Einsichten eines jungen Mannes. Das alles soll der Bildungsroman darstellen, analysieren: den Weg eines jungen, romantischen Mannes zur seriösen und nützlichen Existenz eines Erwachsenen in der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu gehört alles: die Liebe, die Ehe (was ja nicht ein und dasselbe ist), der Beruf, die Karriere, die sozialen Beziehungen usw., eben alles. Und der Witz, die Ironie bei Flaubert besteht eben darin, dass diese Lehrjahre zu nichts führen, eben auch nicht zu reifer, gesellschaftstüchtiger, ehetüchtiger Männlichkeit. Frédéric Moreau, der Held, ist als erwachsener Mann eben auch nicht klüger als zuvor. Flaubert hielt nicht allzu viel von bürgerlichen Idealen. Und bei Lehrjahre der Männlichkeit hat mir natürlich der Bezug auf Friedrich Schlegels Roman Lucinde gefallen – ein Zwinkern in Richtung deutsche Romantik.

Dahmke: „FERTIG! mein Alter!“ schreibt Gustave Flaubert an einen Freund, nachdem er seine Éducation sentimentale nach jahrelanger Recherche und Arbeit am Text beendet hat. Die Würdigung für seine Arbeit blieb jedoch aus, der Roman wird von vielen zeitgenössischen Zeitungen verrissen. Erst nach Flauberts Tod fand der Roman Anerkennung. Warum? Proust, Benjamin, Kafka und viele weitere wurden von Flauberts Éducation beeinflusst. Wie und warum konnte sich die Éducation vom 19. Jhd. bis heute im Kanon behaupten? Was ist so „modern“ an Flauberts Erzählstil und seinen Themen? 


Edl:
Der Einfluss von Flaubert auf die moderne Literatur ist so riesig, man hat sich so sehr gewöhnt an seine Innovationen, dass einem fast gar nicht mehr auffällt, was daran so neu und unerhört war. Denken Sie an das, was ich vorhin über Madame Bovary gesagt habe: Nach den Lehrjahren war es ganz ähnlich. Die Kritik war empört: Wie kann man – noch dazu mit solchem Aufwand, wie Monsieur Flaubert ihn treibt – einen anspruchsvollen Roman schreiben über triviale Figuren und mittelmäßige Versager wie Emma Bovary und Frédéric Moreau? Das war damals eine ganz normale Frage. Heute käme kein Mensch mehr auf die Idee, ein Kunstwerk müsse sich zwangsläufig mit besonders edlen, herausragenden, tragischen, lehrreichen, vorbildhaften Figuren beschäftigen. Im Gegenteil! Aber wenn wir heute von einem Roman erwarten, verlangen, dass er uns etwas über unsere, über die wirkliche Welt verrät, und nicht über idealisierte Kunstfiguren, dann – ob es uns bewusst ist oder nicht – haben wir das in Flauberts Lehrjahren der Männlichkeit gelernt.

Dahmke: Was darf uns im Flaubertjahr 2021 (200. Geburtstag!) noch erwarten? In Ihrem Nachwort schreiben Sie etwas zu einer Neuübersetzung der Memoiren eines Irren...

Edl: Im Frühjahr 2021 erscheint bei Hanser die große Flaubert-Biographie von Michel Winock, in der Übersetzung von Petra Willim und Horst Brühmann, ein Meilenstein für alle, die mehr über diesen Autor erfahren wollen. Und zum Geburtstag am 12. Dezember selbst die Memoiren eines Irren, ein kleiner Roman, geschrieben vom 17-jährigen Flaubert! Nach den großen Meisterwerken dachte ich, es sei keine schlechte Idee zu zeigen: Wo haben Flauberts eigene Lehrjahre begonnen? Nach Abschluss der Arbeit an den Lehrjahren kam Flauberts Stoßseufzer: „FERTIG! mein Alter!“ Die Memoiren zeigen einen Flaubert, der noch lange nicht „fertig“ ist, das ganze Leben liegt noch vor ihm.

Dahmke: Herzlichen Dank, liebe Frau Edl, für das Interview und den Blick auf Ihren Schreibtisch!


Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit, Hanser 2020, S. 602, 42 Euro.



[1] Flaubert an Jules Duplan. Vgl. Nachwort von Elisabeth Edl. In ebd. Herausgeberin: Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit, Hanser 2020, S. 602.

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Sehnsucht nach dem Mond

 

Über das Lob für unsere Youtube-Lesung mit Daniel Mellem eines Twitter-Nutzers haben wir uns sehr gefreut: "Tolles Beispiel für ein hochprofessionelles Lesungs- und Gesprächsvideo in einer Buchhandlung. Chapeau"! Als Zusatzmaterial finden Sie hier ein verschriftlichtes Interview zwischen Marcus Dahmke und Daniel Mellem über dessen Debütroman „Die Erfindung des Countdowns“.

Dahmke: Lieber Herr Mellem, in meiner Jugend habe ich liebend gerne den französischen Schriftsteller Jules Verne gelesen und gehört; unter anderem auch den Doppelband „Von der Erde zum Mond“ und „Die Reise um den Mond“. Auch der Protagonist, Hermann Oberth, in Ihrem Roman hat mit Jules Verne geträumt: von der Möglichkeit mit einem Flugobjekt unseren Trabanten zu erreichen. Wie stehen Sie zu Jules Verne? Hat er Sie vielleicht sogar zum Physikstudium inspiriert?

Mellem: Jules Verne habe ich in meiner Kindheit nicht gelesen, aber sicher hat die Fiktion auch bei meiner Begeisterung für die Physik eine Rolle gespielt. Ich habe in meiner Jugend zum Beispiel unheimlich gern Star Trek: The Next Generation geschaut, das damals täglich im Fernsehen kann. Captain Picard und seine Crew haben sich mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen herumgeschlagen und das hat auch mich damals inspiriert. Leider gibt es heute meinem Empfinden nach nur noch selten positive Science Fiction. Wir beschäftigen uns sehr mit Dystopien und natürlich liegen in neuen Technologien auch immer Gefahren. Aber wissenschaftliche Neugier ist nichts, was per se schlecht ist – das dürfen wir dabei nicht vergessen.

Dahmke: Wie sind Sie auf den historischen Hermann Oberth, der zwischen 1894 und 1989 tatsächlich gelebt hat, aufmerksam geworden? Und warum ist die Wahl auf die Gattung des Romans gefallen? 

Mellem: Bis vor etwa fünf Jahren kannte ich Oberth selbst gar nicht. Damals las ich über Frau im Mond und stieß dabei zwangsläufig auf ihn. Er hat mich sofort fasziniert mit einem Leben voller Sehnsüchte und Verfehlungen. Nachhaltig beindruckt hat mich, dass Oberth schon früh von der Raumfahrt träumte und dann selbst dabei war, als die ersten Menschen zu Mond flogen – er war ein Utopist, der die Erfüllung seiner Utopie erlebte. Die Literatur gibt mir die Möglichkeit, ein solches Leben erlebbar zu machen. Zu zeigen, wie es sich angefühlt haben könnte für so eine Figur, die exemplarisch steht für einen Menschen, der nach etwas greift, das er eigentlich nicht erreichen kann. Um so eine Perspektive einzunehmen, muss man natürlich erfinden – was aber nicht heißt, dass die Recherche entfällt. Im Gegenteil: Ich muss über die Fakten Bescheid wissen, damit ich überhaupt erst erfinden kann. Dafür habe ich mich mit Oberths Werken beschäftigt, Biographien über ihn gelesen, Briefwechsel, habe wichtige Orte in seinem Leben wie Schäßburg und Peenemünde besucht. So habe ich versucht, mich dieser Figur zu nähern und einen Weg zu finden, von ihr zu erzählen. Im Großen bin ich dabei faktisch, im Kleinen fiktional. Heißt: Meilensteine, die die Figur Hermann abschreitet, ist die historische Person Oberth so oder ähnlich auch gegangen. Aber die Wahrnehmung der Welt, die vielen Begegnungen, die Dialoge, die Konflikte, die einzelnen Episoden bilden eine fiktive Wirklichkeit, die nicht identisch ist mit der historischen Wirklichkeit. Es ist nicht das Leben der historischen Person Hermann Oberth, sondern eine Möglichkeit davon.

Dahmke: Den Jungen, den wir am Anfang des Romans bei seinen Abenteuern in der Umgebung von Siebenbürgen in Österreich-Ungarn erleben und der mit Jules Verne im Gepäck rudern gegangen ist, wird zu einem einzelgängerischen Charakter; in sich gekehrt fängt er an zu studieren. Welche Bedeutung spielt diese soziale Abkanzelung für die Entwicklung des Protagonisten?  

Mellem: Oberths Einzelgängertum ist ganz zentral für seinen Lebensweg. Zum einen hilft ihm bei der Entwicklung seiner Ideen. Erst der Junge, der sich in sich selbst zurückzieht und in seinem Ruderboot von Verne träumt, kann eine Weltraumrakete erfinden und sich ihr ganz verschreiben. Zum anderen aber verunmöglicht genau diese soziale Abkanzelung, sich mit Verbündeten seiner Idee zusammenzutun. Es gab in den zwanziger Jahren einige Raketenenthusiasten, die sich für Oberths „Rakete zu den Planetenräumen“, diese sperrige Formelarbeit, begeistern konnten, nicht umsonst wurde 1927 der Verein für Raumschiffahrt gegründet. Aber Oberth gelang es nie, das für sich zu nutzen. Er war schüchtern, unfähig eine solche Bewegung anzuführen. Dazu war er ein Fanatiker seiner Idee, der nur schwer Kompromisse machen konnte – das führte zwangsläufig zu Konflikten mit beispielsweise Max Valier, der mit Fritz von Opel die Raketenautos baute.

Dahmke: Gleichzeitig beginnt das Zeitalter der Utopien. Höher, schneller, weiter wird zur Devise der Welt Anfang des 20. Jahrhunderts; Raketenautos starten, der Film verspricht Ausflüge in fremde Welten. Hermann Oberth muss mit obskuren Kreisen in Kontakt treten, um seine Forschung finanzieren zu können, da seine Ideen von der Wissenschaft abgelehnt werden. In was für Zeiten hat Oberth um Anerkennung gerungen?

Mellem: Oberths Arbeit fiel in den zwanziger Jahren auf fruchtbaren Boden. Die technologische Entwicklung hatte eine Sprung gemacht, Autos eroberten die Straßen, Flugzeuge die Luft. Auch in der Physik war auf einmal vieles denkbar: Quantenmechanik und Relativitätstheorie veränderten das Verständnis der Welt von Grund auf. Für Oberth und seine Idee war das ein Vorteil, weil auf einmal vieles möglich schien – eben auch eine Rakete, um in den Weltraum zu fahren. Gleichzeitig war es für ihn aber unheimlich schwer, sich von Scharlatanen abzugrenzen. Max Valier, der ein großer Vorkämpfer von Oberths Idee war, war überzeugter Anhänger der esoterischen Welteislehre von Hanns Hörbiger, die schon damals aus wissenschaftlicher Sicht Unsinn war. Oberth war es sehr wichtig, vor allem auch die Gelehrten von seiner Idee zu überzeugen – vermutlich nicht zuletzt wegen seiner Enttäuschung über die abgelehnte Doktorarbeit. Dass die Wissenschaft ihn nicht weiter ernst genommen hat, hat ihn verbittert. Auf der einen Seite gegenüber den Gelehrten und auf der anderen Seite gegenüber seinen Mitstreitern wie Valier, denen er vorwarf, nicht wissenschaftlich genug zu arbeiten.

Dahmke: Oberth war nicht nur in entscheidende Umbrüche des 20. Jahrhunderts verstrickt (für die Nationalsozialisten hat er die Raketentechnik vorangetrieben), er war auch Familienvater, eine Rolle, für die er nicht gemacht schien. Wie wichtig sind Empathie und Mitgefühl oder das Fehlen solcher Gefühle in dieser Zeit? Sollte man zwischen Oberth als Wissenschaftler und Oberth als Familienvater unterscheiden? Darf man das? Im Roman werden große moralphilosophische Fragen behandelt. Wie wichtig sind diese, um solch einen ambivalenten Charakter vor dem Panorama des letzten Jahrhunderts zu verstehen?

Mellem: Oberth hat für sich streng zwischen der beruflichen Verbitterung und seinem familiären Glück unterschieden. Ich persönlich halte das für schwierig. Denn: Seinen Traum zu verfolgen, bedeutete für ihn, ein unstetes Leben zu führen. Er musste oft umziehen, verlor seine Arbeit, kam in finanzielle Nöte – diese Sorgen haben zwangsläufig dann auch seine Familie berührt. Allgemein gesprochen: Ich halte es nicht für möglich, Wissenschaft von moralphilosophischen Fragen zu trennen. Es gibt keine kindliche Unschuld von Wissenschaft, für die Erkenntnis Selbstzweck ist – das ist ein nicht erreichbares Ideal. Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die sich in sozialen, politischen, wirtschaftlichen Kontexten bewegen. Natürlich rückwirkt – wenngleich wohl meist unbeabsichtigt und unbewusst – auf die Forschung, die betrieben wird: Was wird geforscht? Wie wird geforscht? Wofür wird geforscht? Erst so ist es m.E. erklärbar, dass jemand wie Oberth mit seiner Rakete einerseits an den Weltraum dachte, andererseits aber auch an eine Waffe für die Nazis. Deshalb muss man bei Forschung die moralphilosophischen Fragen immer mitdenken.

Vielen Dank für das Gespräch!

Wenn Sie noch mehr zu Hermann Oberths Leben und Werk erfahren möchten, besuchen Sie uns gerne auf YouTube.

Das Buch können Sie über den Online-Shop oder direkt vor Ort erwerben.









Mittwoch, 23. September 2020

Das Sittenbild einer verkommenden Gesellschaft

Am Ufer des Sacrower Sees nahe Berlin wird 1932 der Sportwagen des Dr. Erich Mühe entdeckt. Der Arzt ist über Nacht verschwunden und die Mordkommission deckt ein Leben mit Abgründen auf. Was passierte mit diesem angesehenen Arzt am Vorabend der Diktatur? Autor Oliver Hilmes stand Robert Eberhardt für ein kurzes Interview zur Verfügung:


Eberhardt: Sie sind bisher als Sachbuchautor in Erscheinung getreten. Wie kam es zu einem erzählenden Text und inwiefern sind dort historische Fakten mit Fiktion verbunden?

Hilmes: Ich bin von Hause aus Historiker und Geschichte zu rekonstruieren heißt auch Geschichten zu erzählen. Und deshalb ist mir das Erzählerische in meiner Arbeit schon immer sehr wichtig gewesen. Daher ist der Schritt von meinen bisherigen erzählenden Sachbüchern zu einer nun romanhaften Darstellung nicht weit gewesen. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit und ich habe viel recherchiert, manches freilich aus dramaturgischen Gründen erdacht.

Eberhardt: Wie sind Sie auf dieses Thema aufmerksam geworden? Sie haben zuletzt einen Beststeller zur Olympiade 1936 veröffentlicht, sich illustren Figuren des 19. Jahrhunderts wie Cosima Wagner oder Bayernkönig Ludwig II. gewidmet. Wann spielt die Geschichte des Dr. Mühe?

Hilmes: Die Geschichte beginnt im Frühjahr 1932 und endet Anfang der 50er-Jahre in Barcelona. Und das ist das Faszinierende daran: Dass sie sich über 20 Jahre erstreckt, in mehreren politischen Systemen spielt - in der Spätzeit der Weimarer Republik, der Nazizeit, der frühen Bundesrepublik und in der spanischen Franco-Diktatur. Das ist ein wirklich faszinierender Plot. Auf den Fall des Dr. Mühe aufmerksam geworden bin ich im Berliner Landesarchiv, als ich dort die polizeiliche Ermittlungsakte gefunden habe.

EberhardtIst Ihr Buch ein Krimi?

„Das Verschwinden des Dr. Mühe“ ist auf der einen Seite ein ungelöster faszinierender Kriminalfall, auf der anderen Seite aber auch eine Erzählung über den Verlust von Anstand und Moral am Vorabend der Diktatur.  Das Sittenbild einer verkommenden Gesellschaft, einer sich verdüsternden Zeit. Und es ist eine Berlin-Saga, weil etwa die spezifischen Lebensumstände in der damaligen Reichshauptstadt eine große Rolle spielen.

Mehr Infos zum Buch: www.doktormuehe.de

Das Buch für 20 Euro im FELIX-JUD-Webshop bestellen - versandkostenfrei oder Abholung am Neuen Wall 13 in Hamburg am nächsten Tag (bei Bestellungen bis 17 Uhr). 









Freitag, 18. September 2020

Unbändige Kraft der Natur

Noch bis zum 26.9.2020 läuft bei uns die Ausstellung "Lichtspiele" von Hermann Reimer. Robert Eberhardt hat den Maler in seinem Berliner Atelier besucht.

Wer sich eine Landschaft oder ein "Baumporträt" von Hermann Reimer in die Wohnung hängt, kann sich einen Spaziergang sparen und in den heimischen vier Wänden "waldbaden". Intensiv ist das Licht- und Farbspiel, mit dem Hermann Reimer Naturstimmungen festhält. Er versteht es meisterhaft, das selbst für Fotografen schwer zu fassende, diffuse "Waldlicht" einzufangen: den starken Hell-Dunkel- Kontrast von Sonnenstrahlen und schattigen Partien, das durch das Blätterwerk gefilterte und durchgrünte Licht, die changierenden Optiken auf moosigem und belaubtem Waldboden. Zudem schwingt das Mythologische des Waldes stets mit: der Raum des Märchens, das Nicht-Urbane, das romantisch Geheimnisvolle. Die unbändige Kraft der Natur, das Sprießen und Durchdringen der unaufhaltsamen Pflanzenwelt, angefeuert von Licht und Sonnenkraft, schreibt sich in seine Bilder ein. Man versteht den Wald als Raum, der ganz anderen Gesetzen folgt wie Architektur und Wohnraum. 

Viele seiner kleinformatigeren Bilder malt Hermann Reimer im Freien. Als Meisterschüler von Klaus Fußmann steht er der realistischen wie naturverbundenen Malergruppe nahe, die mit Christopher Lehmpfuhl und Till Warwas derzeit ihre bekanntesten Vertreter findet. Große Formate fertigt Hermann Reimer in seinem Atelier in Berlin an, in einem alten Fabrikgebäude, das als Solitär auf freier Fläche nahe der Stadtautobahn steht und vom Senat komplett an Berliner Künstler vermietet wird. 

Hier entstehen auch Bilder mit Spiegelmotiven - neben Walddurchsichten eine bildnerische Spezialität von Reimer. In ungewöhnlichen Bildausschnitten zeigt er Landschaften in ihren anteiligen Spiegelungen in Wasseroberflächen von Seerosenteichen, Tümpeln oder Kanälen. Es ist das Robuste der Natur, das Materielle, die Konstruktion, was Reimer zu interessieren scheint. Nicht der liebliche, klassisch gesehene Landschaftssauschnitt, sondern die ungewohnte, ausschnitthafte Perspektive, in deren Zufälligkeit sich die starke, unverstellte Landschaft zeigt. Deshalb wirken seine Bilder: als ästhetischer Kraftausdruck der Natur.

Die Ausstellung "Lichtspiele" ist bei uns am Neuen Wall 13 noch bis zum 26.9.2020 zu sehen, von Montag bis Samstag 10 bis 18 Uhr. 










Mittwoch, 16. September 2020

Leere Flure, aber viel verlegerische Energie


Urlaub und Reisen in Deutschland - unser Mitarbeiter Marcus Dahmke hat Hamburg verlassen und den Kiwi-Verlag in Köln besucht: 

Leere Flure, verwaiste Zimmer, stickige Konferenzräume. Was sich so dramatisch anhört, war und ist teilweise noch traurige Verlagsrealität.

Am Freitagnachmittag sind die Verlagsräume von Kiepenheuer und Witsch nahe des Kölner Doms leer – typisch für einen Freitag; gleichzeitig ist in diesem Sommer nur wenig wie immer.

Mirjam Mustonen, Key Accounterin im Vertrieb, erzählt vom Alltag in Corona-Zeiten, während wir durch das nahezu menschenleere Stockwerk gehen; vorbei an geöffneten Türen, Glaskästen mit Lizenzausgaben von z.B. Frank Schätzing, Autorenfotos und (nur scheinbar!) wahllos zusammengestellten Bücherbergen.

Bei Kiepenheuer & Witsch hat man auf die schwierige Zeit flexibel reagiert. Homeoffice und Arbeiten im Verlagsgebäude – für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter wurde die Lösung gefunden, die zur Lebenslage passt und ein erfolgreiches und sicheres Arbeiten garantiert.

Wichtig beim Arbeiten im Verlag sei vor allem, dass die Sicherheitsabstände und Gesundheitsmaßnahmen eingehalten werden können. Risikos minimieren und MitarbeiterInnen schützen ist oberstes Gebot.

Viel Abstimmung ist nötig in diesen Tagen, immer noch: nicht nur verlagsintern, sondern auch mit dem Handel, den Großhändlern und der Auslieferung in Hamburg. Zum Glück gibt es inzwischen wieder so etwas wie einen Alltag.

Mitte März sah die Situation noch ganz anders aus. Viele Buchhandlungen haben ihre Aufträge storniert, Kontaktpersonen waren nicht erreichbar, niemand konnte sagen, wie es in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten weitergehen wird. Die ganze Arbeit, die in die Vorbereitung der Leipziger Buchmesse gesteckt worden ist, konnte durch die Absage nicht mehr umgesetzt werden, berichtet Mirjam. Für die Frankfurter Buchmesse, die im Herbst stattfindet, plane man nun mit einem Online-Programm. Einen Messestand wird der Verlag in diesem Jahr dort nicht haben. Man kann sich nicht 100-prozentig darauf verlassen, dass bis dahin alles überstanden sei. Wie um ihre Worte zu belegen, strömen hinter den Fenstern der Arbeitsräume des Verlages auf dem Bahnhofsvorplatz und am Kölner Dom Menschenmengen durch die Stadt. Wahrscheinlich ist diese kurzfristige Lösung wirklich die einzig richtige Entscheidung. Auch wenn das neue Format mit viel zusätzlicher bzw. ungewohnter Arbeit verbunden ist...

Die Umstellung zum Homeoffice sei anfangs durchaus ein Kraftakt gewesen, Programme mussten installiert, Hardware zur Verfügung gestellt, die Datensicherheit garantiert werden; einiges ließe sich trotzdem nicht ohne Probleme von zuhause aus richten. Zusammenarbeit sei das Zauberwort ... und Erreichbarkeit. Viele Probleme, die man selber aus dem Arbeitsalltag der letzten Monate kennengelernt hat, spricht Mirjam an. Und die vielen erfolgreichen Lösungen.

Zum Abschluss wenden wir uns vor der Bücherwand in ihrem Arbeitszimmer, natürlich mit 1,5 Meter Abstand, dem Herbstprogramm zu. Der neue Meyerhoff ist schon im Druck, Thomas Hettches neuer Roman wird gespannt erwartet (mich eingeschlossen).

Länger reden wir über die ehemalige Top-10 Weltranglisten Tennisspielerin Andrea Petković, von der Kiepenheuer und Witsch ihre ersten autofiktionale Erzählungen herausbringen wird. „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“ heißt der Band, der Anfang Oktober in diesem Jahr erscheinen wird. Vieles aus ihrem eigenen Leben soll Petković verarbeitet haben, humorvoll und literarisch verdichtet, kleine Parabeln eines Sportlerinnenlebens. Also nicht nur für Tennisliebhaber ein interessantes Buch; schließlich gehe es auch im Leben immer wieder um Sieg und Niederlage und (vielleicht passender in dieser Zeit): um seltene Glückmomente. Wir dürfen gespannt sein. Ich bin es auf jeden Fall!


Ganz herzlichen Dank an Dich, Mirjam, für die Einladung und den herzlichen Empfang (sogar in den Verlagsräumen, womit ich in Corona-Zeiten nicht gerechnet habe) und die ausführlichen Antworten auf meine vielen Fragen. Dieser kleine Bericht wird dem Umfang nur in Ansätzen gerecht.

Dienstag, 18. August 2020

Entlarvung, Enthüllung, Demaskierung - Felix Hartlaub

Warum lohnt sich die Beschäftigung mit Felix Hartlaub (1913-1945)? Biograph Matthias Weichelt antwortet:

Die Veröffentlichung von Aufzeichnungen des 1945 verschollenen Schriftstellers Felix Hartlaub war in den fünfziger Jahren eine Sensation: Geheime Skizzen aus dem besetzten Paris und aus den Führerhauptquartieren „Werwolf“ und „Wolfsschanze“, Innenansichten aus den Zentren der Macht. Eine solche literarische Stimme, sarkastisch, ironisch, direkt, hatte man noch nicht gehört. Hätte Hartlaub sein Manuskript über das Attentat vom 20. Juli, das er als Ohrenzeuge miterlebte, vollendet, wäre daraus, so Tilman Krause kürzlich in der „Welt“, wohl der „interessanteste deutsche Roman über das Dritte Reich überhaupt“ geworden und hätte dem Schreiben über diese Zeit „hierzulande eine andere Richtung“ gegeben, jenseits von Gruppe 47 und Innerer Emigration.

Daß ein Autor mit dieser Beobachtungsfähigkeit und Beschreibungsgabe in eine solche Position gelangt, ist ein historischer Glücksfall. Die Texte, die der promovierte Historiker, Mitglied einer Archivkommission des Auswärtigen Amtes und Mitarbeiter des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, heimlich verfaßte, waren als Material für später gedacht, als Zeugnisse für den Weg in die Katastrophe: „Die Frage nach der Genese, nach dem ‚Wie war es möglich‘, wird wohl die einzige sein, die noch an uns gerichtet, zu der vielleicht noch etwas zu sagen sein wird.“


Die anhaltende Faszination dieses von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägten Lebens und dieses bruchstückhaft gebliebenen Werks beruht nicht zuletzt darauf, daß Hartlaub die Fragwürdigkeit der eigenen Person, des eigenen Verhaltens ins Zentrum der Texte stellt. Das Ziel seiner Literatur ist Entlarvung, Enthüllung, Demaskierung. Darum richten sich die Waffen des Textes auch gegen den Autor selbst. Dieser hat wie kaum ein anderer Schriftsteller mit sprachlicher Genauigkeit und analytischer Schärfe über sich und seine familiären, gesellschaftlichen und politischen Verstrickungen geschrieben. Wie sein großes Vorbild Kafka verstand Hartlaub die Literatur als Möglichkeit, Gericht über sich zu halten. „Einen so unbestechlichen Blick wie den seinen hat es in der Literatur nach 1945 nicht mehr gegeben.“ (Hans Magnus Enzensberger)


Dr. Matthias Weichelt, Chefredakteur der Zeitschrift SINN & FORM, veröffentlichte kürzlich: Der verschwundene Zeuge. Das kurze Leben des Felix Hartlaub. 232 Seiten. Suhrkamp, 2020. 20 Euro.

--> Bestellen Sie diesen Titel im FELIX-JUD-Webshop. Kostenfreie Lieferung nach Hause oder Abholung am nächsten Werktag (bei Bestellungen bis 17 Uhr) bei uns am Neuen Wall 13, Hamburg. 

Freitag, 14. August 2020

Die Nachtseiten des Lebens. "Nocturnes" bei Steidl

Im Gespräch mit dem Herausgeber und Übersetzer Andreas Nohl

 

„Abends, wenn die Zweckverordnung des Lebens ein Ende hat, der Geist endlich frei wird und sich öffnet für das Unheimliche und Dunkle, ist Lesezeit, ist Zeit für Nocturnes.“, heißt es im Ankündigungstext der neuen bibliophilen Reihe im Herbstprogramm vom Steidl-Verlag. Wir wollten mehr wissen! 

 

Marcus Dahmke: Lieber Herr Nohl, wie kamen Sie auf die Idee zu dieser Reihe? War es ein Abend mit Rotwein und einem zu übersetzenden Text, im Hintergrund die melancholischen Moll-Akkorde von Chopin...?

Andreas Nohl: Sie haben nicht ganz Unrecht, es war wirklich ein später Abend, aber ich glaube, es war kein Rotwein. Ich hörte eine Chopin-Einspielung von Harasiewicz, die ich quasi seit Schülertagen besitze, und da blitzte die Idee für eine solche Edition in mir auf. Ich fing an zu recherchieren und fand viele andere enorm faszinierende Berührungspunkte, so etwa die „Nocturnes“ von James Abbott McNeill "Whistler". Und auch die Musik von John Field hat ja bereits etwas sehr Anrührendes.

Dahmke: Inzwischen sind die ersten drei Bände erschienen: „Der Fall Moosbrugger“ von Robert Musil (ein Auszug aus „Mann ohne Eigenschaften“), die Novellensammlungen „Tamango“ von Prosper Mérimée, sowie Richard Middletons „Das Geisterschiff“. Ein historischer Kriminalfall, Seegeschichten und Spuk- und Geistergeschichten. Geschichten, die vom Nachtseitigen und Abgründigen erzählen: im Menschen und in der UnNatur des Dies- und Jenseits. Mögen Sie ein paar Worte zur Auswahl sagen?

Nohl: Ich wollte in jedem Fall eine bestechende Auswahl vorlegen, und zwar sowohl inhaltlich wie vom literarischen Zugriff her. Damit meine ich das „Faszinationspotenzial“ der Texte. Jedes Buch sollte in seinem literarischen Kosmos selbstevident sein. Das heißt, im Grunde habe ich mich für eine Auswahl entschieden, die mich als Leser selbst interessieren würde. Natürlich kommt es dann auch immer auf die Zusammenstellung der Autoren bzw. Autorinnen an und darauf, ob man möglicherweise noch jemanden überraschen kann. Ich denke, das ist bei den drei Büchern nicht so schlecht gelungen.

Dahmke: Ich muss gestehen, dass mich vor allem die Texte von Richard Middleton, den ich bisher noch nicht kannte, in den Bann gezogen haben; ein Geisterschiff, das nach einer stürmischen Nacht im Rübenacker des Gastwirts landet und das Gespensterleben eines englischen Dörfchens durcheinanderbringt, Geschichten von Außenseitern, die sich in ihre vermeintliche Einsamkeit zurückziehen. Melancholisch-tiefsinnige Novellen...

Nohl: Ja, Richard Middleton liegt mir sehr am Herzen. Ich kenne ihn seit meiner Jugend und bin wirklich froh, ihn in Deutschland vorstellen zu können. Er ist so feinsinnig, dass man ihn leicht übersehen kann – er ist eine Art englischer Robert Walser, nur mit einem sehr viel kleineren Oeuvre. Und da er Engländer ist, ist er natürlich auch düsterer und nebliger und unschweizerischer. Aber eben auch nicht ohne Witz. Die Geschichte mit dem Sargverkäufer zum Beispiel, wie nah ist die an Sherlock Holmes und Dr. Jekyll & Mr. Hyde gebaut, und man ist sofort in London. Einfach großartig.

Andreas Nohl (Copyright: Mercan Fröhlich)
Andreas Nohl (Copyright: Mercan Fröhlich)

Dahmke
: Viele andere Namen kommen einem in den Sinn: E.T.A. Hoffmann und andere Vertreter aus der Spätromantik, Edgar A. Poe, Joseph Conrad, Stevenson, Arthur Conan Doyle, Maupassant (der ja auch Vampirgeschichten geschrieben hat) und und und.  

Für die Nocturnes sind Sie Herausgeber und Übersetzer. Alexander Pechmann, mit dem ich Anfang des Jahres ebenfalls über diese beiden Verantwortungsebenen gesprochen habe, meinte (und ich möchte ihn hiermit zitieren), dass es besonders wichtig sei, das deutsche Lesepublikum an „die ungeheure Vielfalt der Literatur zu erinnern, vergessene Autoren wieder ans Licht zu bringen und vergessene Texte berühmter Autoren auszugraben.“

Darf man schon verraten, was uns in Zukunft noch erwarten wird?

Nohl: Der Plan für die nächsten drei Bände steht bereits, es wird eine verblüffende deutsche Ersterscheinung aus dem englischen Bereich geben, etwas Fernöstliches und wiederum etwas Deutsches. Alles Weitere unterliegt leider dem Datenschutz.

Dahmke: Dann kann das Rätselraten ja beginnen. Zuletzt müssen wir natürlich noch über die wunderschöne Ausstattung sprechen: Leineneinband, Fadenheftung, Lesebändchen, jeder Band mit einem Nachwort versehen. Alleine durch das bibliophile, reduzierte Äußere heben sich die Bücher von vielen anderen ab! Wie kam es zu dieser Gestalt bzw. Gestaltung?    

Nohl: Das ist das Geheimnis der enorm begabten Buchdesignerin Paloma Tarrío Alves, die für den Steidl Verlag arbeitet. Ich war auch sehr beeindruckt, als ich die Cover sah. Im Übrigen war von Anfang an klar, dass der Anspruch einer solchen Reihe auch im Äußeren sichtbar sein muss. Und dass Steidl weiß, wie man schöne Bücher macht, ist ja kein Geheimnis.

Bestellen Sie die Titel im FELIX-JUD-Webshop! Kostenfreie Lieferung nach Hause oder Abholung am nächsten Werktag (bei Bestellungen bis 17 Uhr) bei uns am Neuen Wall 13, Hamburg. 

--> Richard Barham Middleton: Das Geisterschiff

--> Robert Musil: Der Fall Moosbrugger

--> Prosper Mérimée: Tamango

Mittwoch, 29. Juli 2020

Kanal- und BuchGeschichten. Das Buch in den sozialen Medien


Immer mehr werden klassische Rezensions- und Empfehlungsformate durch Online-Formate ergänzt und bereichert. Buchblogger, Instagram-Influencer und Booktuber vermitteln Bücher und Literatur in anderer Weise, aber nicht schlechter. Wir haben mit Ilke Sayan gesprochen:


Dahmke: Liebe Ilke, seit Corona finden viele Gespräche (über Bücher) online statt. Buchhandlungen bespielen teilweise mit sehr großem Aufwand die sozialen Medien und stellen in unterschiedlichen Formaten Bücher vor. Du bist seit 2015 mit Deinem Kanal BuchGeschichten auf YouTube. Wie bist Du damals auf die Idee gekommen, Bücher auf YouTube vorzustellen?

Sayan: Wie wohl bei den meisten lag es an dem Wunsch, sich über Bücher auszutauschen. In meinem Umfeld lasen die meisten nicht in dem Maße wie ich und ich wollte meine Freundschaften nicht länger mit meinen scheinbar endlosen Leseberichten strapazieren. Es war eine spontane Entscheidung, meine Leidenschaft stattdessen mit mir unbekannten Gleichgesinnten zu teilen. Die Online-Community war so herzlich, es machte mir so viel Spaß, dass ich mir bald darauf auch einen Instagram-Account einrichtete. Wieder einmal ohne lange darüber nachzudenken.

Dahmke: Wie bist Du auf den Namen BuchGeschichten gekommen?

Sayan: Anfangs hatte ich einen ganz anderen Kanalnamen im Kopf, an den ich mich mittlerweile nicht mehr erinnern kann. Er war allerdings schon vergeben. Da ich mein erstes Video schon gedreht hatte und alsbald veröffentlichen wollte, versuchte ich es mit anderen Namen, die mir gerade in den Sinn kamen. BuchGeschichten, mein 6. oder 7. Versuch, war noch verfügbar, so kam es zu dem Namen. Ich muss also gestehen, dass ich auch über den Kanalnamen nicht lange nachgedacht habe. Wichtig war mir lediglich, dass durch den Namen verständlich wird, dass es sich um einen deutschsprachigen Kanal über Bücher handelt.

Dahmke: Wie findet man als Literaturbegeisterter, (der gerne mal zum Klassiker greift,) überhaupt Booktuber auf der Plattform, die den eigenen „Literaturgeschmack“ treffen?


Sayan: Wenn man bedenkt, dass YouTube nach Google die zweitgrößte Suchmaschine im Internet ist, sollte es nicht mit sehr aufwändigen Recherchen verbunden sein… Am besten nutzt man die Suchleiste. Hat man einen Kanal gefunden, der einem zusagt, kann man sich auf der Kanalseite die Liste derjenigen aufrufen, die der/die BooktuberIn abonniert hat. Auf vielen Kanalseiten ist die Liste öffentlich einsehbar. Dort findet man häufig weitere BooktuberInnen mit ähnlichem Lesegeschmack. Auch durch die Video-Vorschläge von YouTube (neben/unter dem abgespielten Video) kann man fündig werden.

Dahmke: Apropos Literaturgeschmack: In deiner Kanalinfobox schreibst Du, Du liest alles gerne, hauptsächlich aber Gegenwartsliteratur, Klassiker und Graphic Novels. Diese Genres werden von Dir auch hauptsächlich besprochen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Persönliche Interessen nehme ich an...

Sayan: Ja, persönliche Vorlieben. Aber ich greife gerne auch mal zu Büchern aus anderen Genres – aus Neugier, zur Abwechslung oder um festzustellen, ob mir die Genres mittlerweile nicht doch zusagen.

Dahmke: Booktube soll keine Literaturkritik sein, sondern Begeisterung für Literatur vermitteln. Wie viel Kritik und wie viel Begeisterung braucht und verträgt eine Buchbesprechung auf YouTube Deiner Ansicht nach?

Sayan: Ich denke, auf YouTube ist in erster Linie Authentizität und Aufrichtigkeit wichtig.
Ob die Kritik sachlich oder vehement, die Begeisterung überschwänglich oder dezent geäußert wird, ob ausführlich oder aufs Wesentliche begrenzt, ist individuell und von BooktuberIn zu BooktuberIn unterschiedlich. So sollte es auch bleiben.

Dahmke: Was liest Du gerade? Und gibt es für Dich schon ein Halbjahreshighlight? Oder ein besonderes Buch, das Du in letzter Zeit gelesen hast…

Sayan: Ich lese gerade die Essay-Sammlung „Unter der Haut – Eine literarische Reise durch unseren Körper“ und „Schwere Zeiten“ von Charles Dickens.
Ich habe dieses Jahr einige großartige Bücher gelesen, darunter „Mond über Manhatten“ von Paul Auster, „Pique Dame“ von Alexander Puschkin, „Offene See“ von Benjamin Myers, „Die Straße“ von Ann Petry, „Rot und Schwarz“ von Stendhal, „Wo Licht ist“ von Sarah Moss. Ich könnte noch mehr aufzählen, aber ich denke, das reicht…

Dahmke: Großartige Bücher. „Pique Dame“ ist ja in der Reihe von Kat Menschik bei Galiani wunderbar illustriert herausgekommen. Und die Neuauflage von Petrys „Die Straße“ schockiert immer noch durch das ständig aktuelle Thema der Ungleichheit und Rassenfeindlichkeit in den USA. Wie lässt Du Dich eigentlich inspirieren? Liest Du viele Rezensionen, guckst Du Literatursendungen, sprichst Du mit Freunden und Bloggern etc. über Bücher, stöberst Du durch Verlagsvorschauen oder gehst Du in die Buchhandlung nebenan und tauschst Dich mit den Mitarbeitern aus? Oder ist es von allem ein bisschen?

Sayan: So ziemlich von allem ein bisschen. Natürlich erhalte ich auch von der Community, den ZuschauerInnen, viele gute Empfehlungen und höre gelegentlich Literatur-Podcasts.

Dahmke: Du sprichst nicht nur Literaturempfehlungen aus, es gibt auch andere Themenvideos auf Deinem Kanal z.B. Bücher nach Ländern, BuchGeschichten unterwegs (mit Gesprächen auf der Buchmesse u.a.). Ein umfangreiches und spannendes Programm! Wie haben sich die einzelnen Formate entwickelt?

Sayan: Manche Ideen hatte ich von Anfang an, manche ergaben sich mit der Zeit. Ich probiere gerne Neues aus, wie unter den Rubriken „Videos mit kleinen Extras“ und „BuchGeschichten unterwegs“. Solche Videos sind zeitaufwändiger, da ich meine Videos alleine drehe und bearbeite. Deswegen kann ich leider nicht so regelmäßig experimentieren wie ich mir wünschen würde. Aber ich habe eine Liste an Ideen und anderen Formaten, die ich gerne noch umsetzen möchte und bin gespannt, wie sie von den ZuschauerInnen aufgenommen werden.

Dahmke: Vielen Dank, liebe Ilke, für deine Zeit und die tollen Buchempfehlungen. 

Weiterführende Links:

Gewinnerin Buchblog-Award 2018:

Samstag, 4. Juli 2020

Über die erste Liebe und Stäbchen, Kugeln und Häkchen

Auch wenn es nicht um Corona-Viren geht, scheint Ludger Weß das Buch der Stunde geschrieben zu haben: den Bakterienatlas „Winzig, zäh und zahlreich“ (Naturkunden, Bd. 62, Matthes & Seitz, 280 Seiten, 25 Euro). Als der unsichtbare Feind galten lange Zeit auch Bakterien. Aber Bakterien sind nicht nur gefährliche Krankheitserreger. Seit Urbeginn bevölkern sie die Erde und tun seither viel nützliche Arbeit. Nach der neuesten Forschung haben sie sogar ein Immunsystem entwickelt, um sich vor feindlichen Viren zu schützen!


In 50 Porträts taucht man in dieses wuselige Leben ein und wird nach der Lektüre um einiges aufgeklärter die Welt sehen. Marcus Dahmke hat mit Ludger Weß gesprochen



Dahmke: Lieber Herr Dr. Weß, bereits im Alter von sieben Jahren haben Sie sich das erste Mal verliebt, schreiben Sie in ihrem „Bakterienatlas“, der im Frühjahr in der Naturkunden-Reihe bei Matthes und Seitz erschienen ist. Diese Liebe scheint bis jetzt anzuhalten. Was ist das Besondere an ihrer Beziehung zu Stäbchen, Kugeln und Häkchen?

Weß: Am Beginn stand die Faszination, dass es da im Wassertropfen eine Welt gab, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Dazu kam die Erkenntnis, dass diese verborgene Welt nicht nur im Wassertropfen, sondern überall zu finden ist. Wasserflöhe, Pantoffel- und Rädertierchen kommen nur in Gewässern vor, Bakterien aber überall. Und sie haben erstaunliche Fähigkeiten und lassen sich leicht züchten. Aufregend erschien mir auch, dass immer wieder neue Arten entdeckt wurden. Die Kontinente und Urwälder dieser Welt waren ja schon alle bis ins Kleinste kartiert, aber hier gab und gibt es noch unzählige weiße Flecken.

Dahmke: Wir scheinen beide in unserer Kindheit chronisch „arm“ gewesen zu sein. Ich habe mein Taschengeld für Bücher - also für Buchstaben, Punkte und Kommata - ausgegeben, Sie für Petrischalen, Reagenzgläser, Chemikalien und Co, um Bakterien zu kultivieren. Wie „reich“ sind Sie damit geworden in diese phantastische Welt einzutauchen?

Weß: Ich habe durchaus Geld für Bücher ausgegeben (viel aber auch in der Stadtbücherei ausgeliehen) und viel gelesen: von Klassikern wie Karl May, Mark Twain, Daniel Defoe, Jules Verne und John Steinbeck („Cannery Row“!) über populärwissenschaftliche Literatur von Vitus B. Dröscher, Heinz Haber oder aus dem Kosmos-Verlag bis zu ausgesprochener Fachliteratur zum Thema Genetik oder Bakteriologie. Zusammen haben mir Bücher und Gerätschaften neue Welten erschlossen und faszinierende Einblicke in die Natur ermöglicht – mehr Reichtum ist kaum vorstellbar.

Dahmke: Wir sind umgeben von Bakterien. Sie waren lange vor dem Menschen da und werden höchstwahrscheinlich die letzten sein, die auch in unwirtlichen Gegenden noch überleben können. Was haben wir unseren unsichtbaren Freunden im Laufe unserer (gemeinsamen) Zeit zu verdanken? Warum sind sie von globaler Bedeutung?

Weß: Bakterien sind unscheinbar, aber weil es so viele sind, haben sie einen enormen Einfluss auf die Umwelt. Die Gesamtmasse aller Lebewesen auf der Erde beträgt 550 Milliarden Tonnen, davon entfallen 70 auf Bakterien – Tiere und Menschen zusammen machen nur 2 Milliarden Tonnen aus. Die Erdgeschichte zeigt z.B., dass Bakterien für eine komplette Umwandlung der Erdatmosphäre gesorgt haben – die „große Sauerstoffkatastrophe“ war eine Katastrophe für die damals existierenden Lebewesen, aber die Voraussetzung dafür, dass es Tiere und uns Menschen gibt. Bakterien spielen eine große Rolle bei der Speicherung von Kohlendioxid, den Kreislauf von Stickstoff und Kohlenstoff, als Partner von Pflanzen und Tieren und sind daher von globaler Bedeutung. Ohne besseres Wissen können wir viele Vorgänge, auch den Klimawandel, nicht verstehen.

Dahmke: Nicht nur Freund, sondern auch Feind. Nicht Bakterien, sondern Viren sind momentan im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Warum sollte man sich in Corona-Zeiten Gedanken über Bakterien machen? Sie schreiben, Bakterien haben ein Immunsystem und können sich gegen Viren wehren. Auch gegen Corona-Viren?

Weß: COVID19 ist eine Viruserkrankung und Viren kann man nicht mit Antibiotika bekämpfen. Aber: Fast alle Patienten, die wegen der Erkrankung stationär aufgenommen werden und Atemprobleme haben, erhalten prophylaktisch Antibiotika, um zu verhindern, dass die geschwächte Lunge und die angegriffenen Atemwege zusätzlich von Bakterien befallen werden. Das birgt zweierlei Probleme: Erstens steigt die Nachfrage nach Antibiotika, wobei die Gefahr besteht, dass die beiden wichtigsten Herstellerländer – Indien und China – nicht oder nicht ausreichend liefern können, so dass auch für andere Erkrankungen nicht genügend zur Verfügung stehen. Zweitens erhöht der präventive Einsatz von Antibiotika die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch multiresistente bakterielle Krankheitserreger entstehen, die sich vor allem in den Krankenhäusern verbreiten. Die Krankheit zeigt uns ein weiteres Mal, dass wir unseren Umgang mit Antibiotika überdenken und Alternativen entwickeln müssen.
Bakterien werden von Coronaviren nicht befallen. Aber weil wir das bakterielle Immunsystem immer besser verstehen, ergeben sich daraus Ansatzpunkte für neue Behandlungsstrategien. Derzeit wird daran geforscht, die Tricks des bakteriellen Immunsystems zur Herstellung von Medikamenten gegen Viruserkrankungen zu entwickeln, nicht nur gegen das neue Coronavirus. Außerdem hat uns die Entdeckung das so genannte Genome Editing ermöglicht, ein mächtiges Werkzeug für die Molekularbiologie, ohne das wir bei der Erforschung des neuen Virus nicht so schnell vorangekommen wären.

Dahmke: Am 5. April 2018 war Judith Schalansky mit Andreas Rötzer zusammen bei Felix Jud, um die Naturkunden-Reihe vorzustellen. Was hat dieses Datum mit dem „Bakterienatlas“ zu tun?

Weß: Ich bin an dem Abend mit meiner Frau in die Buchhandlung gekommen, weil uns die Reihe und das Konzept interessierten; ich hatte schon zwei oder drei Bücher aus der Reihe gekauft und gelesen und auch meiner Frau gefielen die Bände sehr. Meine Gedanken sind zwischendurch etwas abgeschweift und ich fragte mich, ob es wohl in der Reihe Bücher zu Mikroorganismen gibt. Im Prospekt fand ich dazu nichts. So habe ich anschließend Judith Schalansky angesprochen und sie gefragt, ob in den Naturkunden Platz für Lebewesen ist, die man nicht mit bloßem Auge sehen kann. Sie fragte zurück, welche Lebewesen ich denn da im Sinn hätte und ich nannte die Bakterien. Sie wollte wissen, was sich zu Bakterien erzählen ließe und wir führten ein kurzes Gespräch. Sie erkundigte sich abschließend nach meiner Expertise und machte den Vorschlag, ich solle ihr ein Exposé schicken. Also habe ich mich am nächsten Wochenende hingesetzt und eins geschrieben und abgeschickt. Die Zusage kam sehr schnell, verbunden mit der Idee, einen Atlas zu machen. Dann folgte ein Treffen mit Matthias Rötzer und schließlich auch mit Falk Nordmann.

Dahmke: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Verlag, Frau Schalansky und Falk Nordmann (der den Band illustriert hat) gestaltet?

Weß: Die Zusammenarbeit lief hervorragend; ich habe Falk Nordmann Fotos zu jedem Bakterium geschickt und Rückmeldungen zu den jeweiligen Zeichnungen. Das war aber sehr problemlos, weil er sehr gut verstanden hat, worauf es bei den Bakterien ankommt. Das einzige Problem waren die zwei oder drei, von denen nur bekannt ist, dass es sie gibt und welche Fähigkeiten sie haben. So gibt es keine Fotos von ihnen. Da hat er schnell eine gute Lösung gefunden.

Dahmke: In Ihrem Nachwort schreiben Sie, das Thema verlange nach einer Fortsetzung. Ich bin schon gespannt!

Ich möchte mich ganz herzlich bei Ludger Weß für dieses spannende Interview bedanken.
Einige signierte Exemplare vom „Bakterienatlas“ sind noch bei uns käuflich zu erwerben.
   


Mittwoch, 27. Mai 2020

Über abenteuerliche Tschechienfahrten, neue Bücher von Anthony Powell und Simon Raven und andere Großprojekte


Im Gespräch mit Ingo Držečnik, Mitbegründer des Elfenbein Verlags 

Alles begann in Heidelberg im Jahr 1996: Mit Mitte 20 gründeten Ingo Držečnik und Roman Pliske den Elfenbein Verlag. Im Interview erzählt Herr Držečnik von der schönen und recht sorglosen Zeit. „Wir waren Studenten, unsere Eltern haben noch den Großteil unseres Lebens finanziert, und den Verlag hatten wir sozusagen nebenbei gegründet.“ Die Neckarstadt habe ihn geprägt: durch das Studium (Germanistik und Geschichte), durch die zehn Jahre, die er dort gelebt hat und durch die Freundschaften, die er dort geschlossen hat: neben Roman Pliske habe er in Heidelberg viele weitere ihm persönlich sehr wichtige Menschen kennengelernt, die nicht unwesentlichen Anteil am Gedeih des Elfenbein Verlags hatten und haben, z.B. Sabine Franke, die Simon Ravens Zyklus Almosen fürs Vergessen übersetzt. „Der Name Elfenbein Verlag wurde übrigens in Inges Weinloch beschlossen, einer neonröhrenbeleuchteten und völlig verrauchten Kneipe in der Heidelberger Altstadt, in der wir vornehmlich um Mitternacht auf einen Schlummertrunk und das dort legendäre Eibrot einkehrten. Der Verlagsname sollte klangvoll sein, ein edles Programm ausdrücken und irgendwie auch klassisch daherkommen.“


Auf die Frage, ob es tatsächlich zu Autoverkäufen und den in der Verlagsgeschichte geschilderten „abenteuerlichen Tschechienfahrten“ gekommen sei, um den Verlag aus den Kinderschuhen zu helfen, meint Herr Držečnik: „Wir haben den italienischen Sportwagen und die ganzen Oldtimer verkauft … Kleiner Scherz – ich besaß nur einen Fiat Uno, der, kaum dass ich ihn verkauft hatte, einen Getriebeschaden hatte, und Roman Pliske einen Ro 80, dessen Wankelmotor dann aber doch zu wankelmütig wurde. Man braucht aber Gründungslegenden.“ Er erinnere sich nicht an jede einzelne Tschechienfahrt, aber an eine sehr genau: „Wir hatten bei der Abholung des Romans Mein skrupelloses Sexleben auf Ibiza von Gregor Eisenhauer (kein Scherz!) nicht damit gerechnet, dass ein bayerischer Grenzbeamter darunter Bedenkliches verstehen könnte. 500 Exemplare dieses Buches lagen im Kofferraum unseres Golfs, als wir an der deutsch-tschechischen Grenze die Papiere zur Anmeldung der Einfuhrumsatzsteuer ausfüllten. Der Grenzbeamte inspizierte die Ware genauer als sonst, er las tatsächlich in dem Buch. Diese Minuten haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt, und der uns Absolution erteilende Satz: ,kein pornografischer Inhalt festgestellt‘ wurde in die Papiere eingetragen, und wir durften passieren.“ 

Immer wieder zog der Verlag nach der Heidelberger Zeit um, bis es zu einem ganz entscheidenden Umzug im Jahr 2014 kam. Der Verlag war inzwischen in Berlin angekommen. „Das war schon der fünfte Umzug.“, erzählt Ingo Držečnik. „Ich musste mich von einem Ladengeschäft mit 50 qm trennen, in dem sich auch ein Archivberg befand, den ich abtragen wollte und dabei stieß ich auf die drei ersten Bände von Anthony Powells wunderbarem Tanz. Ich hatte sie 2001 zum ersten Mal in der Hand, als Powell gerade verstorben war und die NZZ einen großen Nachruf brachte. Meine Erstlektüre hatte damals nicht den bleibenden Eindruck hinterlassen, der für eine Veröffentlichung nötig gewesen wäre (ich war wohl noch zu jung), wirkten aber immerhin so, dass ich die Bände aufbewahrte. Beim Umzug 2014 las ich die Bände erneut, war sofort begeistert und davon überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei alle Bände herauszubringen.“ Die Tatsache, dass es in der Vergangenheit bereits drei Versuche gegeben hatte, den Romanzyklus in deutscher Übersetzung herauszugeben habe ihn keineswegs abgeschreckt, sondern vielmehr ermutigt. „Es ist ja kein Geheimnis, dass gerade solche Projekte, für die es offenbar keinen Massenmarkt gibt, in kleineren Verlagen Chancen haben.“


Der Übersetzer, Heinz Feldmann, den Ingo Držečnik unbedingt bei dem Projekt dabeihaben wollte, war schnell kontaktiert, die Verträge nach etwa zwei Monaten intensiver Verhandlungen unterschriftsreif. „Aber genau in diesem Moment versuchte eine ,Parallelaktion‘ meine Bemühungen zu torpedieren. Das fühlte sich wie ein herber Schlag in die Magengrube an. Verlegerkollegen bedauerten mich, rieten mir, es sportlich zu nehmen. Nun, um bei der Sportmetapher zu bleiben: Am Ende eines Boxkampfs siegt, sofern es kein K.o. gibt, immer der, der die bessere Strategie hat und mehr Punkte sammelt. Im Falle des Tanzes haben die Söhne Powells schließlich Elfenbein den Zuschlag gegeben. Und das hatte wesentlich mit meiner Entscheidung zu tun, Heinz Feldmann zu beauftragen, die noch nicht erschienenen Romane übersetzen zu lassen; in Powells Tagebuch findet sich über Feldmann ein wichtiger Satz: ,I’m lucky to have him as a translator.‘ Die Zusammenarbeit mit Heinz Feldmann war – und ist, denn wir bereiten zusammen gerade die Übersetzung von Powells Vorkriegsromanen vor – ganz und gar wunderbar. Und die Tatsache, dass die ersten drei Romane bereits in Übersetzung publiziert vorlagen und der vierte in Feldmanns Schublade, hat die Realisierung erleichtert: So konnte ich im Herbst 2015 mit den vier Romanen starten und das Feuilleton davon überzeugen, dass dieser Anlauf wirklich ernst gemeint war.“


Inzwischen ist der 12-bändige Zyklus abgeschlossen, es gibt ein Handbuch mit Personenregister, das viele interessante Informationen bietet und die Biographie von Powell. Neben hymnischen Feuilleton-Besprechungen wurde dem Verlag u.a. 2018 der Kurt-Wolff-Preis zugesprochen. Der Preisbegründung zufolge auch, weil er eben jenen Romanzyklus verlegt habe, erzählt Ingo Držečnik. „Das Geld kam gerade recht, weil ich zu dem Zeitpunkt an neue Projekte dachte. Sie werden lachen: Es gibt weitere hochkarätige englische Romanserien, die hierzulande noch nie gelesen werden konnten.“


Neben der Werkausgabe zu Arthur Machen (sprich: Mecken), einem laut Damien Walter vom Guardian „vergessenen Vater der Schauergeschichte“ ist im Frühjahr 2020 der erste Band der Werkausgabe von Simon Ravens Almosen fürs Vergessen erschienen.


„Simon Raven ist hierzulande überhaupt nicht bekannt, und dass er etwa zur selben Zeit, in der Anthony Powell seinen Tanz schrieb, an einem mehrbändigen Zyklus arbeitete, wird viele überraschen. Raven kann hierzulande zum ersten Mal entdeckt werden, sein zehnbändiger Almosen-Romanzyklus ist noch nie ins Deutsche übersetzt worden.“


Mal mehr, mal weniger locker mit dem Lebensweg des englischen Berufssoldaten und Schriftstellers Fielding Gray verbunden, der nach einem Indienaufenthalt auf Zypern und in Deutschland stationiert ist, umspannen die zehn eigenständig lesbaren Romane erzählerisch die Jahre 1945 bis 1973. Sie sind miteinander verwoben durch die Mitglieder einer Gruppe privilegierter Internatsschüler, die sich im ersten Band Fielding Gray anschicken, in verschiedene politische, publizistische, wirtschaftliche und militärische Schaltstellen des britischen Gesellschaftslebens aufzurücken. Berührend, unerschrocken und höchst unterhaltsam erzählt Simon Raven davon, wie ,menschliches Bemühen und Wohlwollen beständig dem heimtückischen Wirken von Zeit, Zufall und der übrigen Menschheit ausgesetzt sind‘. Ein elitäres Bildungssystem, der Zusammenbruch des Britischen Reiches, Suezkrise und Kalter Krieg bilden den Hintergrund, vor dem die moralische Hybris und die menschlichen Schwächen der britischen Oberschicht und der zunehmend auch tonangebenden ,Upper Middle Class‘ ins Visier genommen werden. Almosen fürs Vergessen sei in gewisser Weise mit dem Tanz vergleichbar, und doch wieder nicht, versichert Ingo Držečnik. Die Lektüre der Almosen sei eine gute Ergänzung zum Tanz, weil auch Einblicke in niedrigere Gesellschaftsschichten erlaubt würden und weil Simon Raven nirgends ein Blatt vor den Mund nimmt. Dem Vorwurf, ein Snob zu sein, begegnete Raven mit dem Hinweis, er schreibe „für Leute, die sind wie ich: gebildet, weltgewandt und skeptisch.“ 

Der zweite Band der Almosen mit dem Titel Die Säbelschwadron wird im Oktober 2020 erscheinen. Wir freuen uns schon!

Bei Abnahme der Werkausgabe(n) wird ein Subskriptionspreis gewährt.



Deutscher Verlagspreis 19, Kurt Wolff Preis 18, Preis der Hotlist 18


Weiteres zum Verlag, der Verlagsgeschichte und vor allem zu den Büchern:

http://www.elfenbein-verlag.de



Wir gratulieren ganz herzlich zum Deutschen Verlagspreis 2020!



Dienstag, 19. Mai 2020

Die übermütige Lust, Texte zu entdecken

Simon Strauß, Autor, FAZ-Theaterkritiker und Mitbegründer der Gruppe "Arbeit an Europa" las bei uns bereits 2017 aus seinem Debütroman "Sieben Nächte". Wir haben dem jungen Phantasieaktivist vier Fragen gestellt: über seine jüngst erschienene Anthologie "Spielplanänderung" und das Theater in Corona-Zeiten.

Just als Sie Ihr neues Buch „Spielplanänderung“ mit einer „Langen Nacht der vergessenen Stücke“ an der Berliner Volksbühne vorstellen wollten, stellten die Theaterhäuser ihren Betrieb ein. Bis auf weiteres sind sie als Ort des weiten Denkens, aber engen Sitzens geschlossen. Provokant gefragt: Während Youtube-Kanäle Millionenaufrufe erzielen, scheint das Theater, außer der engeren Community, nicht wirklich jemand zu vermissen. Schockiert Sie das? Dass die dringlichen Fragen der Zeit nicht auf der Bühne, sondern im iPhone verhandelt werden?

Aber für Waschmittel interessieren sich ja noch mal mehr Menschen als für die YouTuber…Im Ernst: Ich glaube, das Theater ist lange genug im Geschäft, um sich keine allzu großen Sorgen um seine Wahrnehmung zu machen. Es kann bei Kunst ja nie um Fragen der Quantität gehen, nicht das "wie viele" zählt, sondern das "wer". Das deutsche Theater hat im weltweiten Vergleich eine einzigartige Stellung. Wir leisten uns ein weitverzweigtes Netz an Schauspielhäusern, die eben mehr sind als nur Orte reiner Unterhaltung. Eine Sogkraft geht noch vom kleinsten Provinztheater aus: Hier werden Dinge verhandelt, die höher und bedeutender als unser Alltag sind, die uns ergreifen, überwältigen und abschrecken können. Für die Tagesthemen reicht das iPhone gerade aus, aber für das Weltgeschehen brauchen wir die Bühnen. Unsere „Lange Nacht der vergessenen Stücke“ wird übrigens in Kooperation mit der FAZ und dem Tropen-Verlag stattfinden: Im Herbst an der Berliner Volksbühne, im Januar 2021 am Salzburger Landestheater und 2022 in Bern.

Theaterkritiker Simon Strauß, hier im Südthüringer Staatstheater Meiningen


In Ihrem Buch stellen 30 Autorinnen und Autoren 30 wenig bis gar nicht mehr gespielte Theaterstücke vor. Sie kritisieren mit Ihrer Anthologie das enge Spektrum der Theaterprogramme und plädieren für Entdeckerfreude und Archivexpeditionen. Sie wurden 1988 geboren - zu welchem Stück, in welche Zeit, in welches Theater mit welcher Besetzung würden Sie sich gerne zurückzoomen, um einen unvergesslichen Abend zu erleben?

Ich wäre gerne bei der Premiere von Maurice Maeterlincks „Interieur“ dabei gewesen. Diesem vergessenen Einakter über den schwierigsten Moment: Zwei Männer wissen um den Tod eines jungen Mädchens und stehen nun vor dem Haus ihrer Familie, schauen durchs Fenster, dehnen die Zeit, um die Nachricht nicht überbringen zu müssen. Es ist ein Stück, das mehr verheimlicht als es erzählt und doch hat es eine ungeheure Stimmung, eine existenzielle Aura, ein dichtes Ambiente der Schicksalswahrheit. Die Duse müsste da mitspielen und - wenn ich in den Zeiten springen darf - Oskar Werner. Beckett, den heute alle zu Recht schätzen, wäre undenkbar ohne Maeterlinck. Dass er auf unseren Bühnen nicht gespielt wird, ist ein Skandal. Es ist trotz allem eigentlich weniger Kritik, das unser Buch bewegt, sondern die übermütige Lust daran, fantastische Theatertexte zu entdecken, die vom Mainstream unerkannt sind.

Die Bühnen bleiben momentan leer - Theaterstücke können trotzdem entdeckt werden: als Texte.

Unsere Kunden fragen sehr selten nach dramatischen Stücken, höchstens nach einem Reclam-Heft, um im Theater mitzulesen. Die Bühnen werden oft mit Roman-Adaptionen bespielt und zeitgenössische dramatische Stücke erscheinen kaum noch als gedrucktes Buch beziehungsweise finden keine Resonanz. Die Zeiten, in denen ein Theaterstück das ganze Land bewegt und zudem als Text gelesen wird, scheint vorbei. Ist das bedauerlich?

Ja, natürlich ist es schade, dass heute die zeitgenössische Dramatik nicht mehr den selben Stellenwert hat wie vor zwanzig Jahren. Die amerikanische Serie hat ihr den Rang abgelaufen, darüber spricht das ganze Land. Ich sehe zwei Tendenzen, mit denen das zeitgenössische Theater darauf reagiert: Einerseits das von Ihnen angesprochene Adaptieren (das übrigens nicht bei Romanen haltmacht, sondern sich auf Filme, Sachbücher und Computerspiele erstreckt) und auf der anderen Seite die möglichst ausgefallene Inszenierung der immer gleichen Klassiker. Der Kanon ist dabei sehr eng begrenzt. Ich würde eben sagen, 80 Prozent der Texte, die der dramatische Kosmos für uns bereithält, kennen wir gar nicht. Und darin liegt eine große Chance für ein literarisches Theater der Zukunft. Denn eine Generation, die von den dramaturgischen Erzähltechniken der Serie geprägt ist, wird sich besser in ein von Spannungsbögen gehaltenes Drama hineinversetzen können als die vorherige Generation, die mit Dekonstruktion und Anything Goes aufgewachsen ist.

Wenn Sie ein Theater für ein Jahr bespielen dürften: Welche Stücke und welche Autorinnen und Autoren Ihrer Generation würden Sie aufführen?!

Um es klar zu sagen: Unsere „Spielplanänderung“ nimmt sich nicht heraus zu behaupten, dass es keine interessanten Stimmen in der gegenwärtigen Dramatik gibt. Denken Sie nur an Namen wie Ewald Palmetshofer, Ferdinand Schmalz, Wolfram Lotz, aber auch Thomas Melle und Maja Zade. Eine der besten, aber vom dekonstruktionsversessenen Regietheater enttäuschte Dramatikerin ist bei uns dabei: Nino Haratischwili. Wenn ich ein Theater bespielen dürfte, würde ich sie alle um Stücke oder Fantasien bitten. Und als Gegengewicht alle dreißig vergessenen Stücke aufführen. Man muss sie auf die Bühne bringen, um zu wissen, ob sie noch leben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Robert Eberhardt.

Simon Strauß. Spielplanänderung, Tropen Verlag, 262 Seiten, 20 Euro.

Vorrätig bei Felix Jud, Neuer Wall 13, Hamburg, oder in unserem Webshop!

Das Buch: bei Felix Jud am Neuen Wall erhältlich. Mit Beiträgen von Daniel Kehlmann, Hans Magnus Enzensberger, Nino Haratischwili, Sasha Marianna Salzmann, Deborah Feldmann, Johanna Wokalek, Andreas Platthaus, Tilmann Spreckelsen, Michael Krüger, Burghardt Klaussner, Manuela Reichert, Botho Strauß u.a.

Montag, 20. April 2020

Die Trüffelbücher der „Leseschweine“

Marcus Dahmke im Gespräch mit Dr. Susanne Schüssler, Verlegerin bei Wagenbach, über die SALTO Reihe.

Seit 1987 gibt es bei Wagenbach die Buchreihe SALTO, die John Berger vor einigen Jahren als „die schönste Buchreihe der Welt“ bezeichnet hat. Doch was macht diese Reihe, die bei den Lesern durch ihr schlankes Format, den roten Leineneinband mit aufgeklebtem Schild und ihrer außergewöhnlichen Themenvielfalt bekannt ist, eigentlich so besonders? Mit Dr. Susanne Schüssler zusammen habe ich mich auf Spurensuche durch die vielfältige Geschichte der Reihe begeben.

Dahmke: Liebe Frau Schüssler, bei Ihrem Interview mit Christian von Zittwitz für die Zeitschrift Buchmarkt sagten Sie, „kein Leseschwein würde momentan Alan Bennetts neues Buch Der souveräne Leser in den Buchhandlungen in die Hand nehmen und sehen können.“ Würden Sie die SALTO Reihe, in der die zuvor genannte Essaysammlung erschienen ist, als Trüffelbücher für „Leseschweine“ bezeichnen wollen?

Schüssler: Nun, das bezog sich auf die wegen Corona geschlossenen Buchhandlungen. Und: JA! SALTO-Bändchen sind Verführungen. Das Tolle ist, im Schutz der beliebten Reihe lassen sich hin und wieder Titel vorstellen, die anderswo untergehen würden. Nach dem Prinzip: Die Reihe kenne ich, da habe ich dieses witzige Buch gelesen und schon mehrfach erfolgreich verschenkt, mal sehen, was das sein mag, „Ich bin ein Laster“ von Michelle Winters. Aber wir müssen vorsichtig sein: Enttäuschen wir einen solchen Vertrauensvorschuss, ist die Reihe gefährdet.


Dahmke: Nicht nur Texte aus der Literatur sind bis dato erschienen, sondern auch Bücher aus den Bereichen Kochen, Kunst und Kultur. Außerdem gibt es die sehr gefragten literarischen Einladungen, die „Städteführer“ der besonderen Art. Welche Rolle spielt die Themenvielfalt der Reihe?

Schüssler: Anfangs war diese Vielfalt noch nicht geplant, die Reihe inhaltlich nicht festgelegt. In über 30 Jahren verändern nicht nur der Verlag und seine Lektoren die Ausrichtung so einer Reihe, sondern auch die Leser mit ihren Interessen. Das gilt übrigens nicht nur für die Inhalte, sondern auch für die Gestaltung. SALTO ist nicht einfach SALTO: Im Lauf der Zeit hat sich die Reihe immer wieder sachte ,modernisiert‘, das heißt den Sehgewohnheiten angepasst. Die Schriften änderten sich ebenso wie die Größe und Einrahmung der Schildchen, die Motive. Die knifflige Aufgabe für den Verlag ist: einerseits die Wiedererkennung zu bedienen und andererseits die Neugier für Unbekanntes anzufachen.


Dahmke: Wie wichtig ist in der Hinsicht die Zusammenarbeit mit der Druckerei?

Schüssler: Sorgfältige Herstellung ist enorm wichtig, und macht obendrein viel Freude: die individuell gewählte Typografie, schöne Proportionen, keine Trennungen von einer rechten auf eine linke Seite usw. Genauso wichtig ist die Produktion: Wir lassen SALTO bei einer hervorragenden Druckerei im Allgäu herstellen. Dort werden die Schildchen übrigens mit Hand aufgeklebt. Zuerst wird die Klebefläche mit einer Bildprägung „tiefer gelegt“, damit sich hinterher die Ecken des Schildchens nicht abrubbeln. Eine gute Mischung von Handwerk und industrieller Fertigung.


Dahmke: Gibt es eine Geschichte zur Farbe Rot?

Schüssler: Oh ja. Die Ursprungsidee war: die ersten Bücher rot, die zweite Lieferung gift-grün, gefolgt von lila etc. Ein Glück, dass es bei ROT geblieben ist.


Dahmke: Warum steht das SALTO A Kopf?


Schüssler: Das A macht vor, was die ganze Reihe will: Gedanken- und Luftsprünge.


Dahmke: Eine für mich persönlich sehr wichtige Frage: Mehr und mehr Verlage verzichten auf den Leineneinband... müssen wir uns um die SALTO Reihe und um den Leineneinband Sorgen machen?

Schüssler: Moden kommen und gehen. Als SALTO in den 80er Jahren anfing, gab es so gut wie keine Leinenbücher, überhaupt taten sich die 70er Jahre durch alles Mögliche hervor, aber nicht durch lesbare und schöne Bücher. Die Druckerei, wo SALTO zunächst produziert wurde, schaffte eine Maschine an, die die Schildchen aufkleben konnte. Die musste dann ausgelastet werden und überall tauchten plötzlich Bücher mit aufgeklebtem Schild auf…

Mein Eindruck ist, dass der Markt derzeit alle möglichen Geschmäcker bedient: vom teuer ausgestatteten Schmuckband bis zur mit sorgfältigem Understatement gemachten Steifborschur und dazwischen alle möglichen wilden Mischungen. Sorgen? Nein. Das sind Wellenbewegungen und manchmal ist auch etwas wirklich Neues dabei, was vorher maschinell einfach nicht zu machen war.


Dahmke: Um noch einmal auf das Interview zurückzukommen: nicht nur sehen und in die Hand nehmen, auch beschnüffeln?! Sollen bei SALTO so viele Sinne wie möglich angesprochen werden?

Schüssler: SALTO ist nicht nur eigens eingefärbtes Leinen, durchgefärbtes Vorsatzpapier, passendes Kapitalband und Fadenheftung, aufgeklebtes Schildchen, geprägte Schrift, SALTO ist auch schönes Papier, gute Druckqualität – mit einer Druckerschwärze, die gut riecht.


Dahmke: ... und eine Geschenkbuchreihe. Was ist gegenüber von anderen Verlagen das Besondere an SALTO als ein Geschenkbuch?

Schüssler: Soweit ich sehe, gibt es eine so hochwertige Ausstattung in keiner anderen Geschenkbuchreihe. Das wichtigste aber: es ist eben keine Backlistreihe, in der erfolgversprechende Titel verwurstet werden. Etwa die „Literarischen Einladungen“ zusammenzustellen ist höchste Anthologisten-Kunst: Es soll ja nicht nur das Portrait eines Ortes, seiner Bewohner und Eigenheiten entstehen, sondern gleichzeitig ein Überblick über die jüngere dort entstandene Literatur gegeben werden.

Mein herzlicher Dank gilt Dr. Susanne Schüssler für den Blick in die Geschichte der SALTO Reihe!


Lektüre-Tipp:

Alan Bennett: Der souveräne Leser.


In dieser neuen Textsammlung, die sowohl autobiografische Essays als auch persönliche Lesetagebücher vereint, begibt sich der Leser mit Bennett zusammen auf Streifzüge durch die Natur und die Literatur. Mit der Erkenntnis: Gras ist nicht gleich Gras! Kommt Ihnen das kafkaesk vor? Dann lesen Sie nach!