Dienstag, 31. August 2021

Ein Leben am Märchenteich

Maren Ermisch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Heinrich Detering in Göttingen, im Gespräch mit Marcus Dahmke über Siegfried Lenzʼ „Florian, der Karpfen“

Siegfried Lenz: Florian, der Karpfen

Dahmke: Liebe Frau Ermisch, es gibt sie noch: die unveröffentlichten Texte von bekannten Namen. Auch von Siegfried Lenz ist in seinem Nachlass ein solcher aufgetaucht: Florian, der Karpfen! Warum ist dieses Märchen, das einstmals für den Rundfunk geschrieben worden ist, erst jetzt wieder aufgetaucht?

Ermisch: Ein Besuch in einem Archiv mit Dichternachlässen ist immer für Überraschungen gut. 2015 haben wir mit "Der Überläufer" einen ganzen unveröffentlichten Roman gefunden! Und bei diesem ersten Archivbesuch – da war der Nachlass von Siegfried Lenz, der seit 2014 in Marbach ist, erst grob vorsortiert und viele Kisten auch noch gänzlich ungeöffnet – sind uns auch einige kleinere Texte aufgefallen, von denen wir annahmen, sie seien möglicherweise noch nicht publiziert, darunter die Geschichte von „Florian, der Karpfen“ in zwei Varianten. Unsere Recherchen haben dann ergeben, dass der Ursprung des Textes die Rundfunkfassung war. Siegfried Lenz hat – wie andere Autoren auch – in den 1950er Jahren viel für den Rundfunk gearbeitet, weil das gute Honorare brachte, mit denen er sich über Wasser hielt, bzw. den Rücken für seine Romane und Erzählungen frei bekam. „Florian“ hat er 1953 für den Kinderfunk des NWDR geschrieben, wo er am 11. Juli ausgestrahlt worden ist. Da damals die Aufnahmebänder knapp waren, hat man sie mehrfach benutzt, darum ist leider keine Tonaufnahme im Archiv erhalten. Es kann aber natürlich sein, dass jemand privat einen Mitschnitt der Sendung gemacht hat. Die Person soll sich dann unbedingt bei uns melden! Warum Lenz sich den Text mehr als zehn Jahre später noch einmal vornahm und aus der Rundfunkfassung mit mehreren Sprechern eine Prosafassung gemacht hat – die, die wir jetzt abdrucken –, konnten wir noch nicht ermitteln.

Dahmke: Und was ist das Besondere an der Geschichte um Karlchen und Florian?

Ermisch: Das Besondere ist, dass es sich um einen Text für Kinder handelt und Lenz ja kein klassischer Kinderbuchautor ist, auch wenn einige seiner Erzählungen als illustrierte Ausgaben für Kinder erschienen sind. Gerade seine Stücke für den Kinderfunk, die jetzt im Rahmen der entstehenden Werkausgabe für den Band mit den Rundfunkbeiträgen ediert werden, sind also Raritäten. „Florian“ ist dabei eine Art Brücke zwischen dem kleinen Jungen Siegfried Lenz, der an den Ufern des Lycksees sein Unwesen treibt, und dem „erwachsenen“ Autor, der in seinem Werk immer wieder auf die Seen und Fische zu sprechen kommt, die ihm seit seiner Kindheit vertraut sind. Und „Florian“ ist einfach eine wunderbar erzählte Geschichte! Wir erleben Lenz als Märchenerzähler, was auch neu ist!

Dahmke: Sie nennen einige Vorbilder für den Text wie Theodor Storm. Was verbindet „Florian“ mit z.B. dem „Häwelmann“?

Ermisch: Lenz bemüht sich in seinem Funkstück natürlich um eine kindgerechte Art zu erzählen, und dabei greift er auf erzählerische Muster zurück, die er wahrscheinlich aus Theodor Storms „Kleinem Häwelmann“ kennt, nämlich auf die direkte Ansprache an seine kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer. Er imaginiert eine Situation, in der Eltern oder Großeltern dem Kind eine Geschichte erzählen, so wie es ja auch bei Storms „Häwelmann“ der Fall ist: Storm hat das Märchen für seinen ältesten Sohn geschrieben. Und so wie Storm seinen Sohn Hans direkt anspricht, so bezieht auch Lenz die Zuhörenden ein, wenn er gleich zu Beginn „mein Kind“ anspricht und feststellt, dass „wir beide“ klüger gewesen wären, als der Märchenheld Karlchen, wenn „wir“ in derselben Situation gewesen wären, und am Schluss tut er das auch wieder: „Du wirst nun wissen wollen, wie das alles kam.“ Manchmal wirkt er dabei ein bisschen belehrend, er erklärt Situationen oder teilt dem Kind mit, dass, weil Karlchen es eben für immer für alle vermasselt hat, das Kind selbst jetzt gar nicht mehr versuchen muss, eine Schwimmblase zu bekommen, um wie ein Fisch unter Wasser schwimmen zu können. So stellt er ein Einvernehmen zwischen Erzähler und Kind her, wie auch Storm das tut. Er simuliert eine mündliche Erzählsituation, die üblicherweise mit der Verschriftlichung eines Märchens wegfällt, aber beim Rundfunk ja wieder da ist.

Dahmke: Nun sind in dem jüngst erschienen Band, zu dem sie das Nachwort geschrieben haben, noch einige andere ergänzende Texte von und über Siegfried Lenz abgedruckt. Was alle gemeinsam haben: die Liebe zum Meer und zu den Fischen. Lenz meinte selbst: Bevor er Lesen gelernt hätte, konnte er Schwimmen und Angeln. Was für eine Rolle spielte diese leidenschaftliche Verbundenheit in seiner Literatur?

Ermisch: Für diesen Band haben wir die Texte über Karpfen ausgesucht, weil „Florian“ die Fischgattung vorgibt, aber Sie haben natürlich recht, es wimmelt nur so vor Fischen in Lenzʼ Werk. Denken Sie nur an den Fischzüchterroman „Die Auflehnung“ oder den dramatischen Showdown zwischen Bert Buchner und dem Ich-Erzähler in „Brot und Spiele“, bei dem ein Hecht eine wichtige Rolle spielt. Oder erinnern Sie sich an diese irre Szene im „Überläufer“, in der ein Soldat in den Sümpfen wahnsinnig wird, weil es ihm nicht gelingt, einen Hecht zu fangen, auf den er es schon lange abgesehen hat, und er wildes Zeug über Jesus, den großen Hecht, von der Kanzel brüllt? Eine großartige Szene! Fische schwimmen in fast jedem Text von Siegfried Lenz herum. Und das hat, so denke ich, mit seiner Kindheit zu tun: Er ist an einem See aufgewachsen, das war seine Abenteuerwelt, da hat er sich schon als Junge Geschichten ausgedacht und ist als großer Seeheld über den See geschippert. Mit dem Geschichtenausdenken hat er nie aufgehört.

Dahmke: Und mit dem Angeln ebenfalls nicht. Wie wichtig war dem norddeutschen Schriftsteller die Nähe zum Wasser und zu seinen Karpfen?

Ermisch: Ja, er hat sehr gerne geangelt - bis zu einem gewissen Zeitpunkt wenigstens. Von seiner Angelleidenschaft erzählt eine Fülle von Texten, gerade von Stücken wiederum für den Rundfunk: „Der vollkommene Angler“, „Am Widerhaken hängt das Glück“ oder die Erzählung „Eisfischen“. Man könnte eine ganze Sammlung mit Fisch- und Angeltexten von Lenz zusammenstellen. Lenz hat ein Faible für Fische, sie faszinieren ihn in ihrer Vielfalt, darum neigt er vielleicht auch dazu, Menschen mit Fischen zu vergleichen. Das beste Beispiel ist sicher die Erzählung „Ein geretteter Abend“, in der der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sich in einem großen Zackenbarsch wiedererkennen muss.

Lenz hat immer am Wasser gelebt: in Lyck, in Hamburg und in den Ferien auf Alsen. Das Wasser war sein Element, umso schlimmer war es, als das Ehepaar Lenz das Sommerhaus in Dänemark aufgeben musste und das neue Ferienhaus in Tetenhusen im schleswig-holsteinischen Binnenland stand. Aber auch da wusste sich Lenz zu helfen: Er ließ einen großen Teich anlegen und setzte Fische hinein. Die wurden dann tatsächlich zu einer Art Haustier. Lilo und Siegfried Lenz hatten eine enge Beziehung zu Tieren. Natur war für die beiden ganz wichtig, und da gehörte auch das Wasser dazu: das Meer, Seen oder die Elbe. Denken Sie etwa an den Taucherroman „Der Mann im Strom“. Lenz ist selber gern getaucht und kannte die Welt der Fische – wie seine Märchenfigur Karlchen.


Viele Besuche, Lesungen und gemeinsame Projekte verbanden Siegfried Lenz mit der Buchhandlung FELIX JUD. Foto aus dem Firmenarchiv, mit einer Buchhändlerin und Felix Jud, wahrscheinlich 1975, Bücher signierend (und dabei rauchend).


Dahmke: Ein Aspekt, der mich hat aufhorchen lassen, war Lenzʼ Teich in Gelting, gleich hinter dem Deich der Flensburger Förde, zu dem er mit seiner Frau zwischen 1970 und 1992 immer wieder gereist ist. Auch heute noch heißt er Siegfried-Lenz-Teich. Gelting verband den Schriftsteller Siegfried Lenz mit einem Künstler, der wiederum eng mit der Buch- und Kunsthandlung Felix Jud verbunden ist: Klaus Fußmann. Eine ganz besondere Beziehung?

Ermisch: Klaus Fußmann hat zweimal Bilder zu Lenz-Bänden beigesteuert: zu „Der Geist der Mirabelle“ (2008) und zu „Die Leute von Hamburg“ (2012), also zu Büchern, die im Norden spielen. Da scheinen die beiden eine Verbindung gehabt zu haben. Wo sie sich kennengelernt haben und wann und wo sie sich dann begegnet sind, weiß ich leider nicht. Das gehört eher zur Geschichte Ihres Hauses und da wissen Sie wahrscheinlich mehr darüber als ich. Denn ich weiß nur das, was Klaus Fußmann selbst im Nachwort zu „Der Geist der Mirabelle“ schreibt, und da geht es hauptsächlich um … Karpfen!

Dahmke: Vielen Dank, liebe Frau Ermisch!


Das Buch und eine große Auswahl von anderen Texten von Siegfried Lenz können Sie über unseren Webshop Florian, der Karpfen - Produkt (buchkatalog.de) oder vor Ort am Neuen Wall 13 erwerben.

Mittwoch, 18. August 2021

Cécile Wajsbrot und die belletristische Tiefenschärfe

Die französische Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt, Chefredakteur von SINN & FORM, der Zeitschrift der Akademie der Künste Berlin, sprachen über Literatur und lasen aus dem neuen Wajsbrotroman Nevermore (Wallstein Verlag).



Gäbe es ein intuitives Bewältigungsverlangen der Autorin, das sich in den Romanfiguren niederschlüge, Cécile Wajsbrots Roman Nevermore wäre ein klassisches Vorbild dafür. Als Tochter polnischer Juden 1954 in Paris geboren, studierte sie Literaturwissenschaft und arbeitete, bevor sie Schriftstellerin wurde, als Französischlehrerin und Redakteurin. In ihrem neuen Roman scheint die Autorin besonders intensiv aus ihrer vielleicht innersten Anspannung geschöpft zu haben. Sie lässt ihre Protagonistin gleichfalls Übersetzerin sein, um einerseits die Formdifferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachen zu schärfen, und andererseits, um eine intellektuelle Trostsuche zu durchleben.

Christa Wolf schrieb einst in Kindheitsmuster (1976): „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Wajsbrot sich genau das vornimmt, - um im nächsten Schritt des Romanschreibens ihrem Alter Ego nochmals fremder begegnen zu wollen.

Begleitet von Matthias Weichelt hörte das exklusive Publikum Wajsbrot beim Nachdenken zu. Wie entsteht substanzielle Literatur? Was macht wahrhaftige Romane aus? Für die Schriftstellerin ist Literatur weder reine Wissenschaft noch einzig Kunst. Ihrer Meinung nach müsse es einen zwingenden Sinn geben, welcher durch Sprache eine anregende Ästhetik erhielte. Wajsbrots Werke münden über ihre Sinnhaftigkeit mitunter in einer vielleicht postrealistischsten Wahrhaftigkeit. In Nevermore komponierte sie nicht nur eine vielschichtige Erzählung, sondern sie öffnete in ihr auch einen literaturhistorischen Reigen mit Katastrophenorten und deren multilingualen Beschreibungen.

In einer Selbstreflektion über das eigene Schreiben und damit verbundenen Teil-Sein des Literaturbetriebes, empfahl die Autorin, Texte wie einen Teig ruhen zu lassen. Mit belletristischer Tiefenschärfe gelang es ihr immer präziser dem Text Kontraste abzugewinnen. Weichelt erkannte in diesem Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚vergoldete Arbeit‘. Überhaupt ging es um das Schaffen und Gären von bedeutenden Texten. Es brauche Abstand und eine Sprachfindung um gewachsene, inhaltliche Spannung zu ordnen und erzählen zu können. Man konnte Wajsbrot so verstehen, als dass ein aufgestautes Schweigen zu einer unaushaltbaren Belastung werden würde.

Sich deshalb durch die eigene Stimme wirksam zu bemächtigen, um dann nach diesem psycholiterarischen Schreibprozess eine verführerische Trostliteratur anzubieten, ist die Einladung von Cecile Wajsbrot. Sie verstrickt die Leserschaft in Auseinandersetzungen, welche die Kraft haben, daraus Verantwortung abzuleiten.


Instagram: Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt bei Felix Jud

Cécile Wajsbrot: Nevermore 229 Seiten, 20 € [signierte Exemplare im Laden vorhanden]

Cécile Wajsbrot: Zerstörung 230 Seiten, 20 €

Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra 187 Seiten, 19,80 €

Cécile Wajsbrot: Eclipse 232 Seiten, 19,90 €


Ronald Wendorf