Montag, 6. April 2020

Die Auferstehung des historischen Romans: Hilary Mantels Tudor-Trilogie

Im Gespräch mit Annette Weber, Lektorin und Programmleiterin Belletristik bei DuMont

Im Mai 2010 schrieb der englische Romancier Alan Bennett in sein Lesetagebuch:
„Bin kurz vor dem Ende von Hilary Mantels Wölfe, dem ersten von zwei Romanen über Thomas Cromwell. Eine monumentale Arbeit, prächtig und anschaulich und vor Leben strotzend [...]“ (Bennett: Der souveräne Leser, Wagenbach, S. 130). 
Jetzt, 10 Jahre später, sind aus zwei Romanen sogar drei geworden und die beispielslose Erfolgsgeschichte, die 2009 mit der Veröffentlichung von Wolf Hall bei Fourth Estate in London begann, findet nach über 2000 Seiten, bisher zwei Booker-Preisen (jeweils für die ersten beiden Bücher Wölfe (dt. von Christiane Trabant) und Falken (dt. von Werner Löcher-Lawrence)) und wichtigen anderen Auszeichnungen mit Spiegel und Licht (dt. von Werner Löcher-Lawrence) einen fulminanten Abschluss. Die Rede ist natürlich von Hilary Mantels Tudor-Trilogie, die in deutscher Übersetzung im DuMont Verlag erschienen ist. 

Mantels Trilogie bringt alles mit, was den historischen Roman seit jeher ausgezeichnet hat: eine Fülle an historischen und literarischen Personen und verschiedenen detailreich gestalteten Handlungsorten, alles zur Zeit von Henry VIII. in einem England Anfang des 16. Jahrhunderts. 
Mantels Romane seien aber mehr als einfache Abbilder einer vergangenen Zeit, versichert Annette Weber und gesteht, dass sie bisher nur wenige historische Romane mit Begeisterung gelesen hat. „Der historische Roman, der ja auch in den letzten 10, 15 Jahren sehr beliebt war, hatte in der Zeit nicht den Ruf, literarischen Kriterien zu entsprechen. Hilary Mantel hat dieser Gattung wieder ,eine Heimat in der Literatur gegeben‘“, wie sie mit dem Hinweis auf einen Artikel der F.A.Z. erklärt. „Der historische Roman kann dem Leser eine ferne Welt nahebringen. Wenn ein Autor, eine Autorin sich, so wie es Mantel tut, nicht der vergangenen Zeit anbiedert, sondern modern erzählt, dann sieht man nicht nur die Unterschiede zu dieser, sondern auch die Gemeinsamkeiten mit dieser Zeit.“ 
Genau das sei ihr bei der Redaktion immer bewusster geworden. „Wie damals Politik gemacht wurde, wie einer seine Macht, seinen Einfluss ausgeübt hat, mit dem einen paktiert und den anderen ausgebootet hat, das alles unterscheidet sich sicherlich sehr wenig von der heutigen Welt der Politik. Die zum Glück weniger blutig ist als damals“, betont sie. Mantels Darstellung der Machtkämpfe am Hofe Henrys VIII. findet sie sehr modern. Das Vorgehen, Taktieren, die Fragen der verschiedenen Figuren seien nicht befremdlich, sondern eher vertraut. „Mir kam oft die Haltung der Engländer zu Europa und der Brexit in den Sinn. Der Eigensinn, der darin liegt, ist für mich schwer nachvollziehbar, aber wenn man diese Trilogie liest, versteht man ihn besser. Sich gegen den Papst zu stellen, war in der damaligen Zeit ein gefährliches Unterfangen, aber Henry VIII. hat es getan, was ihm ohne Cromwell vermutlich nicht gelungen wäre. Damals wurde der Grundstein gelegt für den Aufstieg Englands und auch den Siegeszug der englischen Sprache. Die Darstellung all dessen ist das Faszinierende und Besondere an Mantels Trilogie: Man ist mittendrin in der Weltgeschichte und spürt sie heute noch.“ Und das besonders durch die Figur von Thomas Cromwell. Mantel sei es gelungen, aus dieser historischen Figur einen Menschen aus „Fleisch und Blut“ zu schaffen. „Man sieht einen Machtmenschen, der völlig rücksichtslos nur seinen Aufstieg vor Augen hat, der strategisch klug und gerissen seine Ziele verfolgt. Er arbeitet mit Drohung, Bestechung, Charme und schickt andere aufs Schafott, wenn sie ihm im Wege sind. Zugleich zeigt die Autorin seine große Einsamkeit, seine Ängste und Zweifel, die ewige Schmach seiner Herkunft, die Demütigungen, die erschreckende Abhängigkeit von Henry VIII. Durch ihre besondere Erzähltechnik kommt einem diese Figur so nahe, so dass ich ihn nicht nur als gefühllosen Machtmenschen sehen kann. Sein ganzes Verhalten ist in seiner Herkunft, seinem Werdegang, seinen Lebenserfahrungen begründet, so dass ein Schwarz-Weiß-Urteil verhindern würde, etwas zu begreifen und zu erkennen, für sich, für die Welt, in der man lebt.“, erklärt Annette Weber.
Ebenso wie Bennett weist auch Annette Weber auf die unglaubliche Rechercheleistung hin, die Hilary Mantel für die Romane betrieben hat. „Man muss bei einem Roman immer auf Genauigkeit achten; und bei diesem Genre ist die historische Genauigkeit natürlich ausschlaggebend. Alles, was belegbar ist, muss stimmen. Hilary Mantel ist aber auch in diesem Punkt eine Ausnahmeautorin: Sie kennt sich bis ins kleinste Detail aus.“ Jede Stichprobe hätte das belegt. Zumindest fast! „Einer der Heiratskandidaten für Henrys Tochter Mary war ein deutscher Herzog. Mantel nennt ihn Philipp, Herzog von Bayern. Er war aber ein Herzog von Pfalz-Neuburg. Auf Nachfrage bei der Autorin habe ich erfahren, dass sie ihn bewusst als Herzog von Bayern bezeichnet hat, da dem englischen Leser Pfalz-Neuburg nichts sage. In der deutschen Ausgabe ist Philipp natürlich ein Herzog von Pfalz-Neuburg.“ Viele Fragen zum Text hätten sich aber bereits während der Übersetzung ergeben. Da der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence und Hilary Mantel sich kennen, konnte Annette Weber viele Frage direkt mit ihm besprechen. 
Auf die Frage, ob sie eine Lieblingsfigur während ihrer Arbeit am Text gewonnen hätte, antwortet sie: „Ich glaube, da geht es Lektoren und Lektorinnen wie allen Lesern. Man hat immer eine Lieblingsfigur. Meine ist ganz klar Thomas Cromwell. Es gibt in diesem Roman seitenweise Passagen, die so ergreifend sind, dass ich fast meine Arbeit des Redigierens vergessen hätte. Ich habe, obwohl er unendlich grausam sein konnte, mit ihm mitgefiebert. Man weiß ja, wie Cromwells Leben endete, aber ich ertappte mich dabei, dass ich hoffte, dieser Autorin würde es gelingen, die Geschichte umzuschreiben, und er würde nicht auf dem Schafott landen.“ 
Zwei Mal hat Mantel den Booker Preis für die beiden Vorgängerromane bereits erhalten, der dritte scheint, laut vielen Kritikern, nicht fern. Bei der Arbeit hätte Annette Weber nicht über die Möglichkeit des 3. Preises nachgedacht. Aber nach der Redaktion stand für sie fest, dass Hilary Mantel den Booker zum 3. Mal bekommen wird, ja bekommen muss! 
Ich schließe mich dieser Meinung nach der Lektüre nur zu gerne an.
Marcus Dahmke
P. S. Für alle, die sich aufgrund der Figurendichte bisher gescheut haben, die Geschichte um Thomas Cromwell zu lesen, spricht Annette Weber eine Entwarnung aus: Wenn man die Bücher von Beginn an liest, würde man die wichtigsten Figuren sowieso nach und nach kennenlernen, meint sie. Und verliert man nach längeren Lesepausen doch mal den Überblick, lohnt ein Blick auf das Personenregister und die Stammbäume, die sich am Ende der Romane befinden.  

Mein herzlicher Dank gilt Annette Weber! Danke für die unkomplizierte Kommunikation und das Engagement für den Blog.
Bedanken möchte ich mich ebenfalls beim Wagenbach Verlag, der uns den Text von Alan Bennett in der Übersetzung von Ingo Herzke zur Verfügung gestellt hat und bei Jörn Schulze-Kroschel, dessen Dame das Foto ziert. 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen