Mittwoch, 18. August 2021

Cécile Wajsbrot und die belletristische Tiefenschärfe

Die französische Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt, Chefredakteur von SINN & FORM, der Zeitschrift der Akademie der Künste Berlin, sprachen über Literatur und lasen aus dem neuen Wajsbrotroman Nevermore (Wallstein Verlag).



Gäbe es ein intuitives Bewältigungsverlangen der Autorin, das sich in den Romanfiguren niederschlüge, Cécile Wajsbrots Roman Nevermore wäre ein klassisches Vorbild dafür. Als Tochter polnischer Juden 1954 in Paris geboren, studierte sie Literaturwissenschaft und arbeitete, bevor sie Schriftstellerin wurde, als Französischlehrerin und Redakteurin. In ihrem neuen Roman scheint die Autorin besonders intensiv aus ihrer vielleicht innersten Anspannung geschöpft zu haben. Sie lässt ihre Protagonistin gleichfalls Übersetzerin sein, um einerseits die Formdifferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachen zu schärfen, und andererseits, um eine intellektuelle Trostsuche zu durchleben.

Christa Wolf schrieb einst in Kindheitsmuster (1976): „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Wajsbrot sich genau das vornimmt, - um im nächsten Schritt des Romanschreibens ihrem Alter Ego nochmals fremder begegnen zu wollen.

Begleitet von Matthias Weichelt hörte das exklusive Publikum Wajsbrot beim Nachdenken zu. Wie entsteht substanzielle Literatur? Was macht wahrhaftige Romane aus? Für die Schriftstellerin ist Literatur weder reine Wissenschaft noch einzig Kunst. Ihrer Meinung nach müsse es einen zwingenden Sinn geben, welcher durch Sprache eine anregende Ästhetik erhielte. Wajsbrots Werke münden über ihre Sinnhaftigkeit mitunter in einer vielleicht postrealistischsten Wahrhaftigkeit. In Nevermore komponierte sie nicht nur eine vielschichtige Erzählung, sondern sie öffnete in ihr auch einen literaturhistorischen Reigen mit Katastrophenorten und deren multilingualen Beschreibungen.

In einer Selbstreflektion über das eigene Schreiben und damit verbundenen Teil-Sein des Literaturbetriebes, empfahl die Autorin, Texte wie einen Teig ruhen zu lassen. Mit belletristischer Tiefenschärfe gelang es ihr immer präziser dem Text Kontraste abzugewinnen. Weichelt erkannte in diesem Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚vergoldete Arbeit‘. Überhaupt ging es um das Schaffen und Gären von bedeutenden Texten. Es brauche Abstand und eine Sprachfindung um gewachsene, inhaltliche Spannung zu ordnen und erzählen zu können. Man konnte Wajsbrot so verstehen, als dass ein aufgestautes Schweigen zu einer unaushaltbaren Belastung werden würde.

Sich deshalb durch die eigene Stimme wirksam zu bemächtigen, um dann nach diesem psycholiterarischen Schreibprozess eine verführerische Trostliteratur anzubieten, ist die Einladung von Cecile Wajsbrot. Sie verstrickt die Leserschaft in Auseinandersetzungen, welche die Kraft haben, daraus Verantwortung abzuleiten.


Instagram: Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt bei Felix Jud

Cécile Wajsbrot: Nevermore 229 Seiten, 20 € [signierte Exemplare im Laden vorhanden]

Cécile Wajsbrot: Zerstörung 230 Seiten, 20 €

Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra 187 Seiten, 19,80 €

Cécile Wajsbrot: Eclipse 232 Seiten, 19,90 €


Ronald Wendorf


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