Auch wenn es nicht um Corona-Viren geht, scheint Ludger Weß das Buch der Stunde geschrieben zu haben: den Bakterienatlas „Winzig, zäh und zahlreich“ (Naturkunden, Bd. 62, Matthes & Seitz, 280 Seiten, 25 Euro). Als der unsichtbare Feind galten lange Zeit auch Bakterien. Aber Bakterien sind nicht nur gefährliche Krankheitserreger. Seit Urbeginn bevölkern sie die Erde und tun seither viel nützliche Arbeit. Nach der neuesten Forschung haben sie sogar ein Immunsystem entwickelt, um sich vor feindlichen Viren zu schützen!
In 50 Porträts taucht man in dieses wuselige Leben ein und wird nach der Lektüre um einiges aufgeklärter die Welt sehen. Marcus Dahmke hat mit Ludger Weß gesprochen
Dahmke: Lieber Herr Dr. Weß, bereits im Alter von
sieben Jahren haben Sie sich das erste Mal verliebt, schreiben Sie in ihrem
„Bakterienatlas“, der im Frühjahr in der Naturkunden-Reihe bei Matthes und
Seitz erschienen ist. Diese Liebe scheint bis jetzt anzuhalten. Was ist das
Besondere an ihrer Beziehung zu Stäbchen, Kugeln und Häkchen?
Weß: Am Beginn stand die Faszination, dass
es da im Wassertropfen eine Welt gab, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen
war. Dazu kam die Erkenntnis, dass diese verborgene Welt nicht nur im
Wassertropfen, sondern überall zu finden ist. Wasserflöhe, Pantoffel- und
Rädertierchen kommen nur in Gewässern vor, Bakterien aber überall. Und sie
haben erstaunliche Fähigkeiten und lassen sich leicht züchten. Aufregend
erschien mir auch, dass immer wieder neue Arten entdeckt wurden. Die Kontinente
und Urwälder dieser Welt waren ja schon alle bis ins Kleinste kartiert, aber
hier gab und gibt es noch unzählige weiße Flecken.
Dahmke: Wir scheinen beide in unserer Kindheit
chronisch „arm“ gewesen zu sein. Ich habe mein Taschengeld für Bücher - also
für Buchstaben, Punkte und Kommata - ausgegeben, Sie für Petrischalen,
Reagenzgläser, Chemikalien und Co, um Bakterien zu kultivieren. Wie „reich“
sind Sie damit geworden in diese phantastische Welt einzutauchen?
Weß: Ich habe durchaus Geld für Bücher
ausgegeben (viel aber auch in der Stadtbücherei ausgeliehen) und viel gelesen:
von Klassikern wie Karl May, Mark Twain, Daniel Defoe, Jules Verne und John
Steinbeck („Cannery Row“!) über populärwissenschaftliche Literatur von Vitus B.
Dröscher, Heinz Haber oder aus dem Kosmos-Verlag bis zu ausgesprochener
Fachliteratur zum Thema Genetik oder Bakteriologie. Zusammen haben mir Bücher
und Gerätschaften neue Welten erschlossen und faszinierende Einblicke in die
Natur ermöglicht – mehr Reichtum ist kaum vorstellbar.
Dahmke: Wir sind umgeben von Bakterien. Sie waren
lange vor dem Menschen da und werden höchstwahrscheinlich die letzten sein, die
auch in unwirtlichen Gegenden noch überleben können. Was haben wir unseren
unsichtbaren Freunden im Laufe unserer (gemeinsamen) Zeit zu verdanken? Warum
sind sie von globaler Bedeutung?
Weß: Bakterien sind unscheinbar, aber weil
es so viele sind, haben sie einen enormen Einfluss auf die Umwelt. Die
Gesamtmasse aller Lebewesen auf der Erde beträgt 550 Milliarden Tonnen, davon
entfallen 70 auf Bakterien – Tiere und Menschen zusammen machen nur 2
Milliarden Tonnen aus. Die Erdgeschichte zeigt z.B., dass Bakterien für eine
komplette Umwandlung der Erdatmosphäre gesorgt haben – die „große
Sauerstoffkatastrophe“ war eine Katastrophe für die damals existierenden
Lebewesen, aber die Voraussetzung dafür, dass es Tiere und uns Menschen gibt.
Bakterien spielen eine große Rolle bei der Speicherung von Kohlendioxid, den
Kreislauf von Stickstoff und Kohlenstoff, als Partner von Pflanzen und Tieren
und sind daher von globaler Bedeutung. Ohne besseres Wissen können wir viele
Vorgänge, auch den Klimawandel, nicht verstehen.
Dahmke: Nicht nur Freund, sondern auch Feind. Nicht
Bakterien, sondern Viren sind momentan im Mittelpunkt der öffentlichen
Wahrnehmung. Warum sollte man sich in Corona-Zeiten Gedanken über Bakterien
machen? Sie schreiben, Bakterien haben ein Immunsystem und können sich gegen
Viren wehren. Auch gegen Corona-Viren?
Weß: COVID19 ist eine Viruserkrankung und
Viren kann man nicht mit Antibiotika bekämpfen. Aber: Fast alle Patienten, die
wegen der Erkrankung stationär aufgenommen werden und Atemprobleme haben,
erhalten prophylaktisch Antibiotika, um zu verhindern, dass die geschwächte
Lunge und die angegriffenen Atemwege zusätzlich von Bakterien befallen werden.
Das birgt zweierlei Probleme: Erstens steigt die Nachfrage nach Antibiotika,
wobei die Gefahr besteht, dass die beiden wichtigsten Herstellerländer – Indien
und China – nicht oder nicht ausreichend liefern können, so dass auch für
andere Erkrankungen nicht genügend zur Verfügung stehen. Zweitens erhöht der
präventive Einsatz von Antibiotika die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch
multiresistente bakterielle Krankheitserreger entstehen, die sich vor allem in
den Krankenhäusern verbreiten. Die Krankheit zeigt uns ein weiteres Mal, dass
wir unseren Umgang mit Antibiotika überdenken und Alternativen entwickeln
müssen.
Bakterien werden von Coronaviren nicht befallen. Aber
weil wir das bakterielle Immunsystem immer besser verstehen, ergeben sich
daraus Ansatzpunkte für neue Behandlungsstrategien. Derzeit wird daran
geforscht, die Tricks des bakteriellen Immunsystems zur Herstellung von
Medikamenten gegen Viruserkrankungen zu entwickeln, nicht nur gegen das neue
Coronavirus. Außerdem hat uns die Entdeckung das so genannte Genome Editing
ermöglicht, ein mächtiges Werkzeug für die Molekularbiologie, ohne das wir bei
der Erforschung des neuen Virus nicht so schnell vorangekommen wären.
Dahmke: Am 5. April 2018 war Judith Schalansky mit
Andreas Rötzer zusammen bei Felix Jud, um die Naturkunden-Reihe vorzustellen. Was
hat dieses Datum mit dem „Bakterienatlas“ zu tun?
Weß: Ich bin an dem Abend mit meiner Frau
in die Buchhandlung gekommen, weil uns die Reihe und das Konzept interessierten;
ich hatte schon zwei oder drei Bücher aus der Reihe gekauft und gelesen und
auch meiner Frau gefielen die Bände sehr. Meine Gedanken sind zwischendurch
etwas abgeschweift und ich fragte mich, ob es wohl in der Reihe Bücher zu
Mikroorganismen gibt. Im Prospekt fand ich dazu nichts. So habe ich
anschließend Judith Schalansky angesprochen und sie gefragt, ob in den
Naturkunden Platz für Lebewesen ist, die man nicht mit bloßem Auge sehen kann.
Sie fragte zurück, welche Lebewesen ich denn da im Sinn hätte und ich nannte
die Bakterien. Sie wollte wissen, was sich zu Bakterien erzählen ließe und wir
führten ein kurzes Gespräch. Sie erkundigte sich abschließend nach meiner
Expertise und machte den Vorschlag, ich solle ihr ein Exposé schicken. Also
habe ich mich am nächsten Wochenende hingesetzt und eins geschrieben und
abgeschickt. Die Zusage kam sehr schnell, verbunden mit der Idee, einen Atlas
zu machen. Dann folgte ein Treffen mit Matthias Rötzer und schließlich auch mit
Falk Nordmann.
Dahmke: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem
Verlag, Frau Schalansky und Falk Nordmann (der den Band illustriert hat)
gestaltet?
Weß: Die Zusammenarbeit lief hervorragend; ich habe Falk
Nordmann Fotos zu jedem Bakterium geschickt und Rückmeldungen zu den jeweiligen
Zeichnungen. Das war aber sehr problemlos, weil er sehr gut verstanden hat,
worauf es bei den Bakterien ankommt. Das einzige Problem waren die zwei oder
drei, von denen nur bekannt ist, dass es sie gibt und welche Fähigkeiten sie
haben. So gibt es keine Fotos von ihnen. Da hat er schnell eine gute Lösung
gefunden.
Dahmke: In Ihrem Nachwort schreiben Sie, das Thema
verlange nach einer Fortsetzung. Ich bin schon gespannt!
Ich möchte mich ganz herzlich bei Ludger Weß für dieses
spannende Interview bedanken.
Einige signierte Exemplare vom „Bakterienatlas“ sind noch
bei uns käuflich zu erwerben.
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