Donnerstag, 16. September 2021

Abgewertet, vergessen und ... wiederentdeckt?!

Nicole Seifert im Gespräch mit Marcus Dahmke über ihr Buch „Frauen Literatur“ und die Übersetzung von Julia Stracheys „Heiteres Wetter zur Hochzeit“

© Sabrina Adeline Nagel

 Dahmke: Liebe Nicole Seifert, für die wenigen, die Sie vielleicht noch nicht kennen sollten: Sie sind promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelernte Verlagsbuchhändlerin, ehemalige Lektorin, arbeiten aber seit Langem schon freiberuflich als Autorin und Übersetzerin. Darf ich eine persönliche Frage stellen? Was hat Ihre Liebe zur Literatur und zum Literaturbetrieb damals begründet?   

Seifert: Die Liebe zur Literatur war irgendwie schon immer da. Vielleicht habe ich sie von meinem Vater geerbt, oder sie ist entstanden, als er mir und meiner Schwester vorgelesen hat. Der Wunsch, dann auch in diesem Bereich zu arbeiten, hat sich mit der Zeit geradezu zwangsläufig daraus ergeben, und zum Glück hat das auch geklappt.

Dahmke: Seit einigen Jahren schreiben Sie den NachtundTag.Blog, der 2019 als „Bester Buchblog“ vom Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden ist. Was ist das Besondere an diesem Literaturblog? 

Seifert: Mit dem Blog widme ich mich fast ausschließlich Autorinnen – solchen, die in Vergessenheit zu geraten drohen oder bereits vergessen sind, aber auch Gegenwartsautorinnen. Ich fand es nicht sinnvoll, auf einem Blog nochmal die Bücher zu besprechen, die sowieso schon überall besprochen werden, und Autorinnen werden vom Feuilleton ja leider nachweislich immer noch vernachlässigt, wie die Rostocker Studie #frauenzählen 2018 bewiesen hat.

Dahmke: Vor einigen Tagen ist ihr erstes Buch bei Kiepenheuer und Witsch erschienen: „Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“. Warum sollte es den Begriff „Frauenliteratur“, der immer noch und dazu meist abwertend benutzt wird, nicht mehr geben?


 Seifert: Den Begriff „Männerliteratur“ gibt es ja auch nicht, obwohl es natürlich genauso Bücher gibt, die Männer zur Zielgruppe haben. Aber Literatur von Männern gilt als DIE Literatur, als das Allgemeine, Gute, Wichtige. Der Begriff „Frauenliteratur“ wird verwendet, um von dieser Literatur abzugrenzen, was Frauen schreiben – als wäre das auch nur für Frauen, nicht wichtig, nichts womit Männer sich beschäftigen müssten. Das geht in der Schule schon los und setzt sich bis ins Feuilleton fort. Ich finde, der Begriff kann weg.

Dahmke: Da schließe ich mich Ihrer Meinung an. Frauen waren und sind im Literaturbetrieb seit Jahrhunderten (oder sollte man sagen seit Jahrtausenden?) unterrepräsentiert. In ihrem Buch suchen Sie Antworten auf die Frage, warum so wenige Autorinnen in den Literaturkanon aufgenommen worden sind u.a. in der Literaturgeschichte. Was für Verdrängungsmechanismen waren am Werk?

Seifert: Das hat viel mit geschlechtsbezogenen Vorurteilen zu tun, die auch im 21. Jahrhundert noch mächtig sind. Eben zum Beispiel mit der Annahme, Männer würden irgendwie die besseren, wichtigeren Bücher schreiben. Was natürlich Quatsch ist, denn literarische Qualität hängt weder am Geschlecht, noch an der Hautfarbe oder an anderen außertextuellen Kriterien. Literarische Qualität hängt nicht mal vom Thema ab, alle Themen sind per se erstmal literaturfähig. Nachdem ich mich so ausführlich mit der Literatur von Frauen und ihrer Rezeption beschäftigt habe, habe ich den Verdacht, dass die Männer, die über Jahrhunderte hinweg die Literaturgeschichten verfasst und einander Ruhm und Ehre zugeschrieben haben, sich für vermeintliche „Frauenthemen“ einfach nicht interessieren. Beziehungsweise: Hätten sie diese Literatur gelesen, hätten sie auch von Ungerechtigkeit und Unterdrückung gelesen. Hätte man diese Literatur ernstgenommen und gelehrt – man hätte sich damit auseinandersetzen müssen, was da drin steht.

Dahmke: Was ist so problematisch an der Aussage vieler Verlage (Verleger): „Wir wählen nach der literarischen Qualität einen Text aus“? Und was für Gegenbeispiele gibt es?

Seifert: Die Aussage „Uns geht es nur um Qualität“ ignoriert, dass wir alle einen gelernten Blick haben. Wir lernen eben schon in der Schule: Was literarisch wertvoll ist, stammt von Männern – von weißen, toten Männern meistens. Dabei ist das falsch. Alle anderen haben auch literarisch wertvolle, interessante, innovative Texte geschrieben. Dieses Gerede von der Qualität ist meist eine vorgeschobene, auch etwas hilflose Behauptung. Wir sind ja schließlich nicht im Edelsteingewerbe, es geht hier nicht um etwas objektiv und eindeutig Nachweisbares. Es geht um Kunst, und da wird Wert zugeschrieben. Und bei dieser Wertzuschreibung spielen Geschlecht und auch Hautfarbe bisher eine viel zu große Rolle. Es wird höchste Zeit, über den Horizont zu gucken, den Blick zu erweitern. Ich finde übrigens auch, dass sich an der Peripherie die viel spannenderen Geschichten finden – insbesondere, nachdem ich selbst jahrzehntelang überwiegend Literatur von Männern gelesen haben, wie wahrscheinlich wir alle.

Dahmke: Frauen Literatur“ ist auch eine wunderbare Fundgrube an Lektüreempfehlungen, man sollte die Lektüre nur mit Stift und Papier beginnen, um sich die vielen inspirierenden Titel notieren zu können. Was für Perlen sind uns so lange entgangen und warum ist der englischsprachige Markt schneller als der Deutsche beim Heben dieser Texte?

Seifert: Das frage ich mich auch. Die deutschen Verlage übersetzen zwar, was in den englischsprachigen Ländern wiederentdeckt wird – und das ist auch sehr schön –, sie scheinen aber noch nicht richtig verstanden zu haben, wieviel es auch bei uns wiederzuentdecken gäbe. Allein aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Der Schöffling Verlag hat mit Gabriele Tergit vorgelegt, eine ganz tolle Autorin, aber es gibt noch so unendlich viel mehr!

Dahmke: Nun sind Sie nicht nur Autorin, sondern auch Übersetzerin. Bei Dörlemann ist vor ein paar Wochen „Heiteres Wetter zur Hochzeit“ von Julia Strachey erschienen, ein Roman der erstmals 1932 publiziert worden ist. Warum war Ihnen das Ausgraben dieser literarischen Perle so wichtig? Und ist das Wetter wirklich so heiter wie der Titel verheißt?

Seifert: Julia Strachey gehörte zum erweiterten Kreis der Bloomsbury Group, eine dieser völlig zu unrecht ganz unbekannten Autorinnen. Heiteres Wetter zur Hochzeit ist eine abgründige Gesellschaftskomödie mit Upstairs-Downstairs-Elementen, very british. Das Wetter ist in Wirklichkeit alles andere als heiter, genau wie die Braut, aber alle tun, als wäre alles in Ordnung – until it isn’t. Diesen schmalen Roman zu übersetzen, war ein großes Vergnügen, ich empfehle ihn sehr.

Dahmke: Und ich meinerseits! Herzlichen Dank, liebe Nicole Seifert, für das Gespräch!


Die besprochenen Bücher FRAUEN LITERATUR - Produkt (buchkatalog.de)Heiteres Wetter zur Hochzeit - Produkt (buchkatalog.de) und auch die Texte von Gabriele Tergit können Sie bequem über unseren Webshop bestellen oder vor Ort am Neuen Wall abholen. Sprechen Sie uns gerne für weitere Empfehlungen an!

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