Mittwoch, 18. Januar 2023

Aufbruch in eine neue Zeit. Die modischen 1910er- und 1920er-Jahre

Einführung in die Ausstellung von Stefanie Schütte-Schneider (Auszug)


Die Welt gerät ins Rennen, die Mode hält Schritt


“Eine Frau muss jederzeit in der Lage sein, im Laufen einen Bus zu erreichen.” Dieses Zitat ist eines meiner Lieblingszitate Coco Chanel. Und ich finde, dass es wie kaum ein anderes den Geist der modischen Jahre beschreibt, die Sie hier in dieser klug zusammengestellten Ausstellung sehen. Und nicht umsonst war es Chanel, die diesen Geist am nachhaltigsten geprägt hat.


Beschleunigung, Geschwindigkeit, Rasen, Wirbeln, Rennen. Die Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und die zunehmende Motorisierung - sogar schon ab Beginn desselben - brachten das Leben aller in einen neuen Takt.



Und der wurde von Avantgarde-Künstlerkreisen wie den italienischen Futuristen, als auch indirekt den frühen deutschen Expressionisten hymnisch gefeiert wurde. Wo wir heute von Entschleunigung und Slow Life träumen, galt damals Beschleunigung und der Fast Track. Und das schlug sich mit dem Auslaufen der Belle Epoque Anfang des 20. Jahrhunders auch mehr und mehr in der Mode nieder. Die alte Behäbigkeit ablegen und in eine neue Welt aufbrechen. Auto fahren, Bus fahren, laufen, tanzen, wirbeln: Vielleicht etwas karikaturesk übertrieben, aber doch recht realistisch sehen Sie dies auf den Zeichnungen der Charleston-Tänzer*innen von Georges Goursat aus den 1920er-Jahren - Rhythmus, Wirbeln, superschnelle Bewegungen zu Jazz-Musik. Das Pulsieren wird regelrecht spürbar. Goursat hat dies an Prominenten seiner Zeit dargestellt, und es packt uns heute noch. Vielleicht erinnern Sie sich hier an die Tanzszene aus Babylon Berlin. 


Aber: Wir haben hier auch eine Zeichnung von Georges Barbier, einem der wichtigsten Pariser Mode-Illustratoren jener Zeit: „La Folie du Jour, die veranschaulicht, dass die neue Beweglich- und Geschwindigkeit und auch der dazu notwendige Paradigmenwechsel in der weiblichen Garderobe nicht erst mit den Roaring Twenties begann. Die Zeichnung fertigte er für das Journal des Dames et des Modes zum Neujahr 1914 an - und sie zeigt eine verwunderte Matrone, sichtbar noch im einengenden Belle-Epoque, wenn nicht gar viktorianisch gekleidet, und die blickt durch ihr Lorgnon auf zwei fast fliegend tanzende junge Paare. In der neuesten Mode und voll beweglich. 



Ein neues Frauenbild - die freie Frau


In dem Eingangszitat von Chanel ist nicht nur die Geschwindigkeit untergebracht, sondern eigentlich dreht es sich vor allem um das Bild der neuen Frau. Die moderne Frau, die mit der Industrialisierung verstärkt in die Arbeitswelt eintritt, die alleine unterwegs ist, die Auto fährt - die endlich so auftreten konnte, wie es die Sufragetten schon Jahrzehnte vorher gefordert hatten. 


Ohne Korsett und in der Lage, mit Männern wenigstens etwas Schritt zu halten. Und auch das sehen wir deutlich auf den hier ausgestellten Bildern: Die schwindende Taille, die befreienden kürzeren Haare, die mehr und mehr bloßgelegten Beine und die leichten fließenden, bewegungsfreundlichen Stoffe. Und natürlich das Ende der ausladenden Kopfbedeckungen. Die Männermode im Übrigen, das sehen Sie auch - wenn Sie sich erneut die Bilder von Goursat - und dann gibt es noch einen Mann bei Robert Leonards Zeichnung „Vom anderen Ufer“ von 1922, hat sich in wenig geändert. 


Der Anzug in zurückgenommenen Farben und das dazu passende Hemd sind, das hat die Modehistorikerien Anne Hollander wunderbar in ihrem berühmten Buch „Sex and Suits“ dargestellt, ist seit dem 17. Jahrhundert bis heute eigentlich relativ, also wirklich relativ, unverändert geblieben. Die Frauen hingegen haben ihre Kleidungsgewohnheiten in den 1910er und 1920er-Jahren radikal geändert - passend zu einer sich stark verändernden Rolle in der Gesellschaft. Diente die Frau aus wohlhabenden Kreisen zuvor gleichsam als „Ausstellungsstück“ des Reichtums des Mannes (auch dazu gibt es ein tolles Modebuch: „Mode nach der Mode“ von Barbara Vinken), so legt sie diese Rolle insbesondere in den 1920er-Jahren - zumindest partiell - ab. Die arbeitende Frau braucht andere Kleidung. Der Kittel der Farbrikarbeiterin, die Uniform der Krankenschwester - all das hinterlässt Spuren. Frauen hatten im Ersten Weltkrieg Jobs angenommen, die sie vorher nie machen durften - nach dem Krieg wurden viele Frauen Büroangestellte und mussten nicht mehr heiraten.





Der Erste Weltkrieg bedeutete natürlich eine brutale Zäsur in der Aufbruchsstimmung der 1910er-Jahre. Dass durch ihn die Veränderungen in den gesellschaftlichen Rollen und damit auch in der Kleidung extrem beschleunigt wurden, das wurde dann nach Ende des Krieges deutlich: Die Mode der 1920er-Jahre gibt sich sehr viel radikaler ist als die des vorangegangenen Jahrzehnts. Wohl wichtigstes Symbol dafür: Der nun allgemein verbreitete Bubikopf - Abzeichen der neuen Frau, dem „Flapper“ (Louise Brooks, Clara Bow) - selbstbewusst, oft unverheiratet, klug, sexuell selbstbestimmt und eben einfach frei. Frauen streben nach den Rechten der Männer und damit auch nach den modischen Insignien, die deren Freiheit markieren. Kurze Haare, Beinfreiheit, ungeschnürte Kleidung.


Und manchmal auch gar keine Kleidung: Der nackte Körper wird zelebriert. Er steht zum einen für den Wunsch nach Natürlichkeit, frei von der Körperfeindlichkeit der früheren Epochen. Schauen Sie sich hier z.B. den weiblichen Halbakt von AndréDerain an, der einfach sehr unverstellt und authentisch wirkt. Schon im 19. Jahrhundert gab es ja eine Hinwendung zum Trainieren des Körpers (Turnvater Jahn, mystische Gymnastik) und dahin, dass er sich frei von Kleiderzwängen in der Natur bewegen konnte (Lebensreform). Der nackte Körper steht aber auch für das Aufbrechen sexueller Konventionen und für erotische Freiheit. In Paris feiert die Tänzerin Josephine Baker, bekleidet nur mit Federn und Perlenkette Triumphe, in Berlin ist dies die Nackttänzerin Anita Berber. Die Diva auf der Zeichnung von Erté übrigens scheint Josephine Baker nachgebildet zu sein.


Die Ausstellung ist bis zum 25.2.2023 zu sehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen