Samstag, 4. Dezember 2021

Die Weiße Rose Hamburg

Die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung veröffentlichte jüngst einen Band mit drei Reden von Peter Fischer-Appelt über die Weiße Rose Hamburg. Wir haben mit Dr. Ekkehard Nümann, Vorsitzender der Stiftung und Herausgeber des Buches gesprochen. 

Robert Eberhardt: Die Weiße Rose wird zumeist mit den Widerstandskämpfern in München assoziiert. Was verband die Geschwister Scholl und die anderen antifaschistischen Helden mit Hamburg? 

Ekkehard Nümann: In der deprimierenden Geschichte der „Selbstgleichschaltung“ der deutschen Universitäten im „Dritten Reich“ ist der unter dem Kürzel der „Weißen Rose“ bekannte studentische Widerstand an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu Recht seit langem international anerkannt. Die Literatur über die Geschwister Hans und Sophie Scholl und ihre Kommilitonen sowie den Professor Kurt Huber ist kaum überschaubar. Immer noch wenig bekannt ist jedoch, dass es aus diesem Kreis und seinem Umfeld mehrfache Beziehungen zu Hamburg gab, vor allem zu einigen Studierenden der hiesigen Universität. Diesen Beziehungen, begründet zumeist in gemeinsamer Schul- und Studienzeit, in einem Einzelfall auch 1940 in einem Kraterloch an der „Westfront“, nachzuspüren, lohnt sich.

Dass die Hamburger Kommilitoninnen und Kommilitonen dabei eine eher nachvollziehende Rolle gespielt haben, ist unbestritten. Ebenso eindeutig sollte allerdings die Achtung gegenüber ihrer Bereitschaft sein, für die Botschaft aus München sowie ihre jeweils eigenen Überzeugungen auch durch Akte des konkreten Widerstands gegen die allgegenwärtige Diktatur im Wissen um die Gefahr ihr Leben zu riskieren. Mit dem „Helden“-Begriff sollten wir allerdings vorsichtig sein. Nur durch glückliche Umstände ist ihnen der Münchener Blutzoll erspart geblieben. Leider gilt dies nicht für den Studenten der Chemie Hans Konrad Leipelt, neben der heute im Alter von 102 Jahren bewusst in den USA lebenden Traute Lafrenz das zentrale Bindeglied zwischen dem Münchener „Stamm“ und dem Hamburger „Zweig“ der Weißen Rose.

100 Seiten, 12 Euro


Eberhardt: Der Band erschien anlässlich des 100. Geburtstags von Hans Leipelt am 18. Juli 2021. Wer war dieser Student, den die Nazis im Alter von 23 Jahren hinrichteten?

Nümann: 1921 in Wien geboren, absolvierte Hans Leipelt nach dem Abitur in Hamburg zunächst den Arbeitsdienst, anschließend leistete er den Wehrdienst ab. Im August 1940 wurde er aus der Wehrmacht entlassen, weil seine Mutter nach den nationalsozialistischen „Nürnberger Rassegesetzen“ als Jüdin galt. Sein Vater konnte ihm jedoch einen Studienplatz für Chemie an der Hamburger Universität verschaffen. Dort bildete sich bald ein Kreis von oppositionell eingestellten Freunden um ihn. Im Winter 1941/42 wechselte Hans Leipelt nach München an das weithin bekannte Chemische Institut von Professor Heinrich Wieland, der mehrfach rassisch Verfolgten half. Die Nachricht von der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts trieb Hans Leipelt und seine Freundin Marie-Luise Jahn zum aktiven Widerstand. Weil sie sich ganz der Weißen Rose verpflichtet fühlten, schreiben sie das letzte Flugblatt ab, verbreiteten es auch außerhalb Münchens und wurden so zum wichtigsten Bindeglied zwischen ihrem Münchener „Stamm“ und dem Hamburger „Zweig“. Hans Leipelt wurde am 8. Oktober 1943 in München festgenommen, aber erst am 13. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 29. Januar 1945 im Strafgefängnis München-Stadelheim ermordet. Marie-Luise Jahn wurde vom Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt und am 29. April 1945 aus dem Zuchthaus Aichach befreit.



Felix Jud (1899-1985) hatte Kontakt zu verschiedenen Widerstandsgruppen. Seine Buchhandlung diente einigen als Treffpunkt. In den Schaufenstern und in der Buchhandlung äußerte er Kritik am NS-Regime. Er wurde im Polizeigefängnis  Fuhlsbüttel und im KZ Neuengamme inhaftiert.  


Eberhardt: Den studentischen Widerstand gegen den Naziterror kann man gar nicht ausreichend genug vermitteln, würdigen und im Denken bewusst halten. Was denken Sie: Könnten wir in Hamburg nicht noch an mehr Orten, deutlicher und öfter an diese mutigen Menschen erinnern? Bei Felix Jud möchten wir in Zukunft zum Beispiel permanent auch die Lebensgeschichte unseres Firmengründers und seines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten darstellen und ehren. 

Nümann: Gewiss könnte und sollte „man“, sowohl die Stadt als auch ihre vorrangig betroffenen Institutionen, ernsthaft, aber behutsam überlegen, welche Beiträge sie noch zur Verankerung dieser Menschen in der städtischen Erinnerungskultur leisten könnten. Dabei sollten wir allerdings, bevor wir uns auf vermeintliche „Leerstellen“ stürzen, berücksichtigen, was bisher seit den 1970er Jahren geschaffen worden ist. 

In der Universität Hamburg existieren neben der bronzenen Gedenktafel von Fritz Fleer im Audimax vom September 1971 seit April 2010 die von ihren Mitgliedern durch Spenden bezahlten Stolpersteine vor dem Hauptgebäude in der Edmund-Siemers-Allee, im dortigen Universitätsmuseum seit Herbst 2019 immerhin ein knapper Hinweis. Im UKE wurde im Dezember 1987 ein Praktikumsgebäude nach den beiden Kandidaten der Medizin Margaretha Rothe und Friedrich Geussenhainer in „Rothe-Geussenhainer-Haus“ benannt und mit einer Gedenktafel versehen. Derzeit laufen in mehreren Fakultäten Diskussionen um die künftige Benennung von Hörsälen. Es ist wahrscheinlich, dass es in der Chemie einen „Hans Leipelt-Hörsaal“ geben wird, im „Philosophenturm“ am Von-Melle-Park nach seiner Renovierung hoffentlich auch einen „Karl Ludwig Schneider-Hörsaal“. Auf studentische Initiative hat das Studierendenwerk Hamburg zum Dezember 2016 die zuvor nach dem Chirurgie-Ordinarius Paul Sudeck benannte Wohnanlage am Stadtpark nach ihrer Grundsanierung in „Margaretha-Rothe-Haus“ umbenannt.

In der Innenstadt erinnert eine von der Kulturbehörde initiierte „Schwarze Tafel“ seit September 1987 am Jungfernstieg 50 – dem Ort der einstigen Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“ –an deren Juniorchef stud. phil. Reinhold Meyer sowie die anderen (nicht nur studentischen) Todesopfer der „Hamburger Weißen Rose“. 

In HH-Rotherbaum liegt vor der Wohnung der Familie Meyer (später Anneliese Tuchels) am Hallerplatz 15 ein Stolperstein für Reinhold Meyer, vor der Johnsallee 63 ein solcher für Friedrich Geussenhainer.

Angeregt durch Recherchen von Schüler*innen des Gymnasiums Ohmoor waren bereits 1984 in HH-Niendorf in einem Neubaugebiet elf Straßen nach oppositionellen Frauen und Männern benannt worden, unter ihnen drei aus dem Kreis der „Hamburger Weißen Rose“: neben Curt Ledien die Studierenden Reinhold Meyer und Margaretha Rothe. Seit 1987 werden die Namen ergänzend „erläutert“ durch das dortige gemauerte Mahnmal „Tisch mit 12 Stühlen“ von Kurt Schütte. 

In HH-Volksdorf erinnert seit 1978 das Mahnmal „Weiße Rose“ von Franz Reckert am bereits 1974 benannten „Weiße-Rose-Platz“ (Im alten Dorfe) an den studentischen Widerstand, zunächst jedoch wohl ausschließlich an den Münchener „Stamm“; eine nicht belegte „Uminterpretation“ auf den Hamburger „Zweig“ erfolgte erst später; sie kann sich anscheinend auf eine dort nachträglich angebrachte Gedenktafel stützen.

In HH-Wilhelmsburg und HH-Harburg wird der Familie Leipelt mehrfach gedacht: Bereits seit 1964 erinnert die Leipeltstraße in Wilhelmsburg zunächst an Hans Leipelt, seit August 2017 durch eine zusätzliche „Erklärtafel“ auch an seine in den Suizid getriebene Mutter Dr. Katharina Leipelt. Die Familie wird anscheinend auch auf einer Tafel im Harburger Rathaus ehrend benannt. Am ersten Harburger Wohnsitz der Familie in der Vogteistraße in HH-Rönneburg wurde 1988 eine Gedenktafel angebracht, die ausdrücklich auch seine Schwester Maria und die Mutter Dr. Katharina Leipelt erwähnt. Seither liegen an den beiden einstigen Wohnorten (dort und in der Mannesallee) auch mehrere Stolpersteine zur Erinnerung an diese beeindruckende Familie. Die heutige Stadtteilschule Wilhelmsburg erinnert seit 1990 am Haupteingang ihres Standorts Rotenhäuser Straße 67 mit einem Porträt und einer Tafel an die einstigen Schüler Hans und Marina Leipelt.

Seit November 1988 tragen die zusammengelegten Schulen Gymnasium Hartzloh und Elise-Averdieck-Gymnasium in HH-Barmbek auf Anregung der Schulkonferenz und Beschluss des Senats den Namen „Margaretha-Rothe-Gymnasium“. In der ehemaligen „Lichtwarkschule“ in HH-Winterhude (der heutigen Heinrich-Hertz-Schule), in der mehrere Zugehörige der „Hamburger Weißen Rose“ prägende Impulse, vor allem von der 1945 mitangeklagten Lehrerin Erna Stahl, erfahren hatten, erinnert seit April 1994 eine Stahltafel auch an Margaretha Rothe; ein Stolperstein liegt vor dem Gymnasium Klosterschule in HH-St. Georg, an welchem sie 1938 ihr Abitur gemacht hat. Nach Erna Stahl heißt seit 2008 der Erna-Stahl-Ring in einem Neubaugebiet im Ortsteil Klein Borstel des Stadtteils HH-Ohlsdorf. Auf dem dortigen Friedhof wird auf dem 2001 angelegten „Garten der Frauen“ in einer „Erinnerungsspirale“ mit einem gemeinsamen Stein auch Erna Stahls und Margaretha Rothes gedacht.

Eberhardt: Vielen Dank für das Gespräch!


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Donnerstag, 16. September 2021

Abgewertet, vergessen und ... wiederentdeckt?!

Nicole Seifert im Gespräch mit Marcus Dahmke über ihr Buch „Frauen Literatur“ und die Übersetzung von Julia Stracheys „Heiteres Wetter zur Hochzeit“

© Sabrina Adeline Nagel

 Dahmke: Liebe Nicole Seifert, für die wenigen, die Sie vielleicht noch nicht kennen sollten: Sie sind promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelernte Verlagsbuchhändlerin, ehemalige Lektorin, arbeiten aber seit Langem schon freiberuflich als Autorin und Übersetzerin. Darf ich eine persönliche Frage stellen? Was hat Ihre Liebe zur Literatur und zum Literaturbetrieb damals begründet?   

Seifert: Die Liebe zur Literatur war irgendwie schon immer da. Vielleicht habe ich sie von meinem Vater geerbt, oder sie ist entstanden, als er mir und meiner Schwester vorgelesen hat. Der Wunsch, dann auch in diesem Bereich zu arbeiten, hat sich mit der Zeit geradezu zwangsläufig daraus ergeben, und zum Glück hat das auch geklappt.

Dahmke: Seit einigen Jahren schreiben Sie den NachtundTag.Blog, der 2019 als „Bester Buchblog“ vom Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden ist. Was ist das Besondere an diesem Literaturblog? 

Seifert: Mit dem Blog widme ich mich fast ausschließlich Autorinnen – solchen, die in Vergessenheit zu geraten drohen oder bereits vergessen sind, aber auch Gegenwartsautorinnen. Ich fand es nicht sinnvoll, auf einem Blog nochmal die Bücher zu besprechen, die sowieso schon überall besprochen werden, und Autorinnen werden vom Feuilleton ja leider nachweislich immer noch vernachlässigt, wie die Rostocker Studie #frauenzählen 2018 bewiesen hat.

Dahmke: Vor einigen Tagen ist ihr erstes Buch bei Kiepenheuer und Witsch erschienen: „Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“. Warum sollte es den Begriff „Frauenliteratur“, der immer noch und dazu meist abwertend benutzt wird, nicht mehr geben?


 Seifert: Den Begriff „Männerliteratur“ gibt es ja auch nicht, obwohl es natürlich genauso Bücher gibt, die Männer zur Zielgruppe haben. Aber Literatur von Männern gilt als DIE Literatur, als das Allgemeine, Gute, Wichtige. Der Begriff „Frauenliteratur“ wird verwendet, um von dieser Literatur abzugrenzen, was Frauen schreiben – als wäre das auch nur für Frauen, nicht wichtig, nichts womit Männer sich beschäftigen müssten. Das geht in der Schule schon los und setzt sich bis ins Feuilleton fort. Ich finde, der Begriff kann weg.

Dahmke: Da schließe ich mich Ihrer Meinung an. Frauen waren und sind im Literaturbetrieb seit Jahrhunderten (oder sollte man sagen seit Jahrtausenden?) unterrepräsentiert. In ihrem Buch suchen Sie Antworten auf die Frage, warum so wenige Autorinnen in den Literaturkanon aufgenommen worden sind u.a. in der Literaturgeschichte. Was für Verdrängungsmechanismen waren am Werk?

Seifert: Das hat viel mit geschlechtsbezogenen Vorurteilen zu tun, die auch im 21. Jahrhundert noch mächtig sind. Eben zum Beispiel mit der Annahme, Männer würden irgendwie die besseren, wichtigeren Bücher schreiben. Was natürlich Quatsch ist, denn literarische Qualität hängt weder am Geschlecht, noch an der Hautfarbe oder an anderen außertextuellen Kriterien. Literarische Qualität hängt nicht mal vom Thema ab, alle Themen sind per se erstmal literaturfähig. Nachdem ich mich so ausführlich mit der Literatur von Frauen und ihrer Rezeption beschäftigt habe, habe ich den Verdacht, dass die Männer, die über Jahrhunderte hinweg die Literaturgeschichten verfasst und einander Ruhm und Ehre zugeschrieben haben, sich für vermeintliche „Frauenthemen“ einfach nicht interessieren. Beziehungsweise: Hätten sie diese Literatur gelesen, hätten sie auch von Ungerechtigkeit und Unterdrückung gelesen. Hätte man diese Literatur ernstgenommen und gelehrt – man hätte sich damit auseinandersetzen müssen, was da drin steht.

Dahmke: Was ist so problematisch an der Aussage vieler Verlage (Verleger): „Wir wählen nach der literarischen Qualität einen Text aus“? Und was für Gegenbeispiele gibt es?

Seifert: Die Aussage „Uns geht es nur um Qualität“ ignoriert, dass wir alle einen gelernten Blick haben. Wir lernen eben schon in der Schule: Was literarisch wertvoll ist, stammt von Männern – von weißen, toten Männern meistens. Dabei ist das falsch. Alle anderen haben auch literarisch wertvolle, interessante, innovative Texte geschrieben. Dieses Gerede von der Qualität ist meist eine vorgeschobene, auch etwas hilflose Behauptung. Wir sind ja schließlich nicht im Edelsteingewerbe, es geht hier nicht um etwas objektiv und eindeutig Nachweisbares. Es geht um Kunst, und da wird Wert zugeschrieben. Und bei dieser Wertzuschreibung spielen Geschlecht und auch Hautfarbe bisher eine viel zu große Rolle. Es wird höchste Zeit, über den Horizont zu gucken, den Blick zu erweitern. Ich finde übrigens auch, dass sich an der Peripherie die viel spannenderen Geschichten finden – insbesondere, nachdem ich selbst jahrzehntelang überwiegend Literatur von Männern gelesen haben, wie wahrscheinlich wir alle.

Dahmke: Frauen Literatur“ ist auch eine wunderbare Fundgrube an Lektüreempfehlungen, man sollte die Lektüre nur mit Stift und Papier beginnen, um sich die vielen inspirierenden Titel notieren zu können. Was für Perlen sind uns so lange entgangen und warum ist der englischsprachige Markt schneller als der Deutsche beim Heben dieser Texte?

Seifert: Das frage ich mich auch. Die deutschen Verlage übersetzen zwar, was in den englischsprachigen Ländern wiederentdeckt wird – und das ist auch sehr schön –, sie scheinen aber noch nicht richtig verstanden zu haben, wieviel es auch bei uns wiederzuentdecken gäbe. Allein aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Der Schöffling Verlag hat mit Gabriele Tergit vorgelegt, eine ganz tolle Autorin, aber es gibt noch so unendlich viel mehr!

Dahmke: Nun sind Sie nicht nur Autorin, sondern auch Übersetzerin. Bei Dörlemann ist vor ein paar Wochen „Heiteres Wetter zur Hochzeit“ von Julia Strachey erschienen, ein Roman der erstmals 1932 publiziert worden ist. Warum war Ihnen das Ausgraben dieser literarischen Perle so wichtig? Und ist das Wetter wirklich so heiter wie der Titel verheißt?

Seifert: Julia Strachey gehörte zum erweiterten Kreis der Bloomsbury Group, eine dieser völlig zu unrecht ganz unbekannten Autorinnen. Heiteres Wetter zur Hochzeit ist eine abgründige Gesellschaftskomödie mit Upstairs-Downstairs-Elementen, very british. Das Wetter ist in Wirklichkeit alles andere als heiter, genau wie die Braut, aber alle tun, als wäre alles in Ordnung – until it isn’t. Diesen schmalen Roman zu übersetzen, war ein großes Vergnügen, ich empfehle ihn sehr.

Dahmke: Und ich meinerseits! Herzlichen Dank, liebe Nicole Seifert, für das Gespräch!


Die besprochenen Bücher FRAUEN LITERATUR - Produkt (buchkatalog.de)Heiteres Wetter zur Hochzeit - Produkt (buchkatalog.de) und auch die Texte von Gabriele Tergit können Sie bequem über unseren Webshop bestellen oder vor Ort am Neuen Wall abholen. Sprechen Sie uns gerne für weitere Empfehlungen an!

Montag, 6. September 2021

Der mächtigste Mann der Welt - die Biografie zu Xi Jinping

Stefan Aust und Adrian Geiges recherchierten im innersten Zirkel des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Daraus entstand eine beeindruckend klare Biografie. Ronald Wendorf sprach mit Adrian Geiges:

 © Piper Verlag

Ronald Wendorf: Wer ist Xi Jinping?

Adrian Geiges: Er ist der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und der Präsident Chinas. Das erste ist wichtiger als das zweite, da in sozialistischen Ländern die führende Rolle der Partei gilt, wie sie auch in der chinesischen Verfassung verankert wurde. Das heißt die Partei steht immer über dem Staat. Daher ist es eine Formalität, dass der Parteichef auch der Staatschef wird. Er ist der mächtigste Mann des zunehmend mächtigsten Land der Erde.


RW: Wie ist Xi Jinping zum mächtigsten Mann in der kommunistischen Partei geworden?

AG: Er hat zum einen gute Voraussetzungen gehabt. Denn als Sohn eines Parteiführers der ersten Generation ist er ein sogenannter Prinzling. Sein Vater machte den Langen Marsch, den Gründungsmysthos der chinesischen Volksrepublik, mit. Zum anderem ruhte er sich nicht auf seiner Herkunft aus, sondern er ist ganz bewusst den Weg von der Pike auf gegangen. Er begann als Dorfparteisekretär und stieg in immer höhere Positionen auf. Er kennt den Parteiapparat durch und durch, und wurde damit im Sinne der kommunistischen Partei perfekt qualifiziert, das Land zu führen.


RW: In diesem Zusammenhang beschreiben Sie mir den Ort Yan‘an.

AG: Das war der Endpunkt des Langen Marsches und dann das Hauptquartier der Kommunisten im Bürgerkrieg ein Löss-Plateau in 960 Metern Höhe. Dort war die gesamte Parteiführung versammelt wie Mao Zedong und eben auch der Vater von Xi Jinping Xi Zhongxun. Das muss man sich vorstellen, als ob eine kleine Dorfclique plötzlich ein Land mit fast 1 Milliarde Menschen anfängt zu führen. Sie kannten sich untereinander und hatten ihre Intrigen miteinander, aber sie kannten sich damit und dadurch sehr, sehr gut.


RW: Für welche Überzeugungen steht Xi Jinping?

AG: Er steht für die Überzeugung, dass China nach den Jahrhunderten der Demütigung der Kolonialmächte wieder zu einem starken Land gemacht werden muss. Das war China in seiner langen Geschichte bereits. China war über Jahrtausende das führende Land der Erde. Das möchte er wiederherstellen. Jedoch mit der Idee, dass dies am besten mit einer straff geführten kommunistischen Partei geschieht. Diese dürfe eben nicht durch irgendwelche freiheitlichen, demokratischen Gedanken irritiert werden.

Adrian Geiges und Ronald Wendorf im Hotel Fontenay | Bild © Stefan Aust


RW: Straffe Führung klingt sehr nach Mao. Wie viel Mao ist in ihm?

AG: Es ist sehr viel Mao in ihm. Aber es ist auch sehr viel Lenin und Stalin in ihm. Aber das Interessante ist, dass er sich zum neuen Mao macht. Unmittelbar vor ihm herrschten Parteiführer, die kein besonderes Charisma hatten. Zudem wussten sie um die Verbrechen Maos und betrieben trotzdem den Kult um Mao, um weiterhin eine Identifikationsfigur anzubieten. Xi Jinping macht sich aber durch den Kult, den er um sich selbst inszenieren lässt, selbst zu Identifikationsfigur. Er beruft sich zwar auf Mao, aber er zitiert ihn wie man auch mal Konfuzius zitiert. Mittlerweile wurde in die chinesischen Grundschulen eingeführt, die Gedanken Xi Jinpings zu studieren.


RW: Xi Jinping sieht sich also einerseits in einer Linie mit Mao und anderseits als neuer Herrscher. Das ist das Persönliche. Wie ist es mit der Neuen Ökonomischen Politik, wie sie Lenin in den 1920er Jahren der Sowjetunion etablierte. Wie ist Xi Jinpings Beziehung zur Wirtschaft?

AG: Das ist eine sehr gute Frage. Eigentlich sind die wirtschaftlichen Erfolge, die China in den letzten Jahrzehnten hatte, nicht dem Sozialismus zu verdanken. Deng Xiaoping öffnete unter Beibehaltung der kommunistischen Führung die Märkte sowohl für die Einheimischen, die Restaurants bis hin zu Internetunternehmen gründeten, als auch für ausländische Investoren wie Siemens oder VW. Xi Jinping sagt zwar in Worten, dass er an Gaige Kaifang, also der Reform und Öffnung, festhalten möchte. De facto hat er gerade in den letzten Monaten angefangen es zurückzudrehen. Im Moment gibt es einen Crackdown gegen die reichen Unternehmer. Die spannende Frage wird sein, was das für Chinas Zukunft heißt? Xi Jinpings Position scheint zu sein, dass die wirtschaftliche Kraft so groß ist, dass diese Maßnahmen dem Land gar nicht schaden könnten. Die Gefahr für die kommunistische Partei Chinas ist, dass sie möglicherweise den gewachsenen, wirtschaftlichen Vorteil verlieren könne. Die derzeitige Börse ist nicht mehr so stark.

 

RW: Welche Konfliktpotenziale stecken in der kapitalistischen Wirtschaft für die kommunistische Partei? Wann wird es brenzlig?

AG: Das hat Xi Jinping klug erkannt. Brenzlig wird es, wenn die Unterschiede in der Vermögensverteilung, die Umweltbelastungen und die Korruption weiter steigen. Das hat er durchaus richtig als Gefahr für die Kommunistische Partei erkannt. Das ist der Grund, warum er manche der wirtschaftlichen Öffnungen zurücknahm und den Nationalismus stärker fördert. So lassen sich Rückschläge besser abfedern.

 

RW: Was ist der gemeinsame Nenner zwischen Volk und Partei?

AG: Seit 1978 war der gemeinsame Nenner, dass es den Leuten von Jahr zu Jahr deutlich besser ging und im Gegenzug protestierte die große Mehrheit der Leute nicht. Man hatte sich eingefügt. Mit dem Hintergedanken, dass es für den wirtschaftlichen Aufwärtstrend keine Garantie gäbe, reicht es Xi Jinping nicht, dass die Leute unpolitisch sind. Denn der Nationalismus soll gerade über mögliche wirtschaftliche Schwächen hinweg miteinander verbinden. Xi Jinping möchte, dass die Leute wieder gläubig mit dabei sind.


RW: Wie guckt Xi Jinping auf Europa?

AG: Er geht davon aus, dass der Westen, vor allem die USA, die Hegemonie über die Welt gehabt haben. Diese hat China brechen können, und mittlerweile geht es nicht mehr um Augenhöhe. China versucht andere Länder in einer Abhängigkeit zu halten um diese nicht gegen chinesische Interessen laufen zu lassen. Ganz konkret sah man das bei der Vergabe des Friedensnobelpreises. Anschließend wurden weniger Waren aus Norwegen gekauft. Als aus Australien Kritik an China kam, kauften die Chinesen keine Kohle mehr als Australien. Unter Deng Xiaoping hat sich China international zurückgehalten. Das hatte sich jetzt geändert. China möchte diktieren.


RW: Was sollte man gelesen haben um das gegenwärtige China zu verstehen?



Adrian Geiges' Leseempfehlungen:

Stefan Aust, Adrian Geiges: Xi Jinping. Der mächtigste Mann der Welt 288 Seiten, 22 Euro

Jung Chang: Wilde Schwäne. Die Frauen meiner Familie. Eine Geschichte aus China im 20. Jahrhundert 752 Seiten, 12,99 Euro

Jung Chang. Jon Halliday: Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes 974 Seiten, 22 Euro

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert 336 Seiten, 12 Euro

Kai Strittmatter: Gebrauchsanweisung für China 272 Seiten, 10 Euro

Hong Ying: Tochter des großen Stromes. Roman meines Lebens 315 Seiten, 19,90 Euro

Lianke Yan: Dem Volke dienen 229 Seiten, 10 Euro


Stefan Aust | Adrian Geiges | Ronald Wendorf

Mittwoch, 1. September 2021

Max Liebermanns 'Sommerfrische' vom 16.8.-18.9.2021

In unserer aktuellen Ausstellung zeigen wir ausgewählte Werke von Max Liebermann (1847-1914), Wegbereiter der Moderne. 

Mit seiner zeitlosen Ästhetik führt er uns das süße Leben und eine moderne Frische vor Augen. Die Heiterkeit der bürgerlichen Freizeitgestaltung findet ab Mitte der 1890er Jahre Einzug in sein Oeuvre.

Mit Sommerfrische knüpfen wir bei Felix Jud an die Tradition an, Arbeiten von Max Liebermann auszustellen. 2011 präsentierten wir von ihm das Selbstbildnis im Anzug. Zudem wurde der Briefwechsel zwischen Max Liebermann und Alfred Lichtwark von den beiden prominenten Gästen: Hubertus Gaßner und Daniel Richter gelesen.

Max Liebermann | Schiffe auf der Außenalster, undatiert
Pastell auf Papier; 12,4 x 19,7 cm, signiert



Durch die enge Freundschaft mit seinem Förderer Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, besucht Liebermann ab 1890 die Hansestadt mehrfach. Fasziniert von der exquisiten Schönheit der Stadt sowie des hanseatischen Lebensstils schafft Liebermann Pastelle von höchster Lebendigkeit wie Die Schiffe auf der Außenalster. Mit dem Spiel aus Licht und Farben experimentiert er jahrelang überaus eindrucksvoll.


Max Liebermann | Spiel im Garten  Maria, die Enkelin des Künstlers
mit der Kinderfrau und dem Dackel ihrer Großeltern am Wannsee, circa 1920
Tusche auf Papier | 12,4 x 17,5 cm, signiert


Die Liebe zu Hamburg verführt ihn, sich einen Landsitz im Stil der Hamburger Patriziervillen am Wannsee errichten zu lassen. Die Sommerresidenz wird Liebermanns ländliches Refugium, in das sich der vielbeschäftigte Maler gern zurückzieht. Während der Sommeraufenthalte entsteht eine Vielzahl von Skizzen, die das private Leben der Familie veranschaulichen. Der kleine Kreis, bestehend aus Max Liebermann, seiner Ehefrau Martha und der Tochter Käthe, wird 1917 durch die Geburt der Enkeltochter Maria erweitert. In einer ganzen Serie von Bildern beobachtet Liebermann die Entwicklung seiner Enkeltochter und hält die Natürlichkeit und das unbefangene, in sich selbst versunkene Spielen fest.


Max Liebermann | am Tisch, ca. 1905-1911
Pastell auf Papier | 14 x 22 cm, siginiert


Gartenlokale sind das Motiv, das Liebermann zum Impressionisten werden lässt. Typisch dafür sind ein skizzenhafter Farbauftrag und die Reduzierung des Dargestellten auf wenige Details. Bei dem hier in virtuoser Art als Pastell festgehaltenen Ausflugslokal handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um De Oude Vink (Der alte Fink), eine der damals beliebtesten Caféterrassen Hollands. Sie befand sich am südwestlichen Stadtrand Leidens, in prächtiger Lage, wo an einer Biegung der Korte Vliet-Kanal in den Rhein mündet.


Max Liebermann | Reiter am Meer, ca. 1908
Tusche auf Papier; 8,7 x 14,5 cm, signiert


Als Gymnasiast absolviert Liebermann 1862 mehrere private Zeichenkurse bei dem renommierten Pferdemaler Karl Steffeck. Das Sujet von Pferden und Reitern findet sich fortlaufend in Liebermanns Studien. Dabei spielt immer wieder die Eleganz des Reitens in der Beherrschung des Rosses und der daraus resultierenden Repräsentation von Haltung eine wichtige Rolle. 


Max Liebermann | Strandszene in Noordwijk, 1908
Pastell auf Papier; 12,5 x 19,5 cm, signiert


Wie schon seit vielen Jahren verbringt Max Liebermann auch 1908 den Sommer im holländischen Noordwijk. Hier malt er eine Serie seiner besten Strandbilder direkt vor der Natur. Dabei kommt Liebermann beim Skizzieren in Pastell, seinem Ideal, einer unmittelbar aus der sinnlichen Wahrnehmung schöpfenden künstlerischen Form am nächsten.


Unser vollständiges Angebot von Max Liebermann Werken

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Regina Scheer: Max Liebermann erzählt aus seinem Leben, m. Audio-CD 95 Seiten, 16,90 Euro


Frauke Berchtig: Max Liebermann. Eine Biografie in Bildern 96 Seiten, 19,80 Euro

Gloria Köpnick: Max Liebermanns Garten 52 Seiten, 14 Euro

Anke Albrecht: Gärten der Künstler 224 Seiten, 36 Euro



Annika Sprünker | Ronald Wendorf

Dienstag, 31. August 2021

Ein Leben am Märchenteich

Maren Ermisch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Heinrich Detering in Göttingen, im Gespräch mit Marcus Dahmke über Siegfried Lenzʼ „Florian, der Karpfen“

Siegfried Lenz: Florian, der Karpfen

Dahmke: Liebe Frau Ermisch, es gibt sie noch: die unveröffentlichten Texte von bekannten Namen. Auch von Siegfried Lenz ist in seinem Nachlass ein solcher aufgetaucht: Florian, der Karpfen! Warum ist dieses Märchen, das einstmals für den Rundfunk geschrieben worden ist, erst jetzt wieder aufgetaucht?

Ermisch: Ein Besuch in einem Archiv mit Dichternachlässen ist immer für Überraschungen gut. 2015 haben wir mit "Der Überläufer" einen ganzen unveröffentlichten Roman gefunden! Und bei diesem ersten Archivbesuch – da war der Nachlass von Siegfried Lenz, der seit 2014 in Marbach ist, erst grob vorsortiert und viele Kisten auch noch gänzlich ungeöffnet – sind uns auch einige kleinere Texte aufgefallen, von denen wir annahmen, sie seien möglicherweise noch nicht publiziert, darunter die Geschichte von „Florian, der Karpfen“ in zwei Varianten. Unsere Recherchen haben dann ergeben, dass der Ursprung des Textes die Rundfunkfassung war. Siegfried Lenz hat – wie andere Autoren auch – in den 1950er Jahren viel für den Rundfunk gearbeitet, weil das gute Honorare brachte, mit denen er sich über Wasser hielt, bzw. den Rücken für seine Romane und Erzählungen frei bekam. „Florian“ hat er 1953 für den Kinderfunk des NWDR geschrieben, wo er am 11. Juli ausgestrahlt worden ist. Da damals die Aufnahmebänder knapp waren, hat man sie mehrfach benutzt, darum ist leider keine Tonaufnahme im Archiv erhalten. Es kann aber natürlich sein, dass jemand privat einen Mitschnitt der Sendung gemacht hat. Die Person soll sich dann unbedingt bei uns melden! Warum Lenz sich den Text mehr als zehn Jahre später noch einmal vornahm und aus der Rundfunkfassung mit mehreren Sprechern eine Prosafassung gemacht hat – die, die wir jetzt abdrucken –, konnten wir noch nicht ermitteln.

Dahmke: Und was ist das Besondere an der Geschichte um Karlchen und Florian?

Ermisch: Das Besondere ist, dass es sich um einen Text für Kinder handelt und Lenz ja kein klassischer Kinderbuchautor ist, auch wenn einige seiner Erzählungen als illustrierte Ausgaben für Kinder erschienen sind. Gerade seine Stücke für den Kinderfunk, die jetzt im Rahmen der entstehenden Werkausgabe für den Band mit den Rundfunkbeiträgen ediert werden, sind also Raritäten. „Florian“ ist dabei eine Art Brücke zwischen dem kleinen Jungen Siegfried Lenz, der an den Ufern des Lycksees sein Unwesen treibt, und dem „erwachsenen“ Autor, der in seinem Werk immer wieder auf die Seen und Fische zu sprechen kommt, die ihm seit seiner Kindheit vertraut sind. Und „Florian“ ist einfach eine wunderbar erzählte Geschichte! Wir erleben Lenz als Märchenerzähler, was auch neu ist!

Dahmke: Sie nennen einige Vorbilder für den Text wie Theodor Storm. Was verbindet „Florian“ mit z.B. dem „Häwelmann“?

Ermisch: Lenz bemüht sich in seinem Funkstück natürlich um eine kindgerechte Art zu erzählen, und dabei greift er auf erzählerische Muster zurück, die er wahrscheinlich aus Theodor Storms „Kleinem Häwelmann“ kennt, nämlich auf die direkte Ansprache an seine kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer. Er imaginiert eine Situation, in der Eltern oder Großeltern dem Kind eine Geschichte erzählen, so wie es ja auch bei Storms „Häwelmann“ der Fall ist: Storm hat das Märchen für seinen ältesten Sohn geschrieben. Und so wie Storm seinen Sohn Hans direkt anspricht, so bezieht auch Lenz die Zuhörenden ein, wenn er gleich zu Beginn „mein Kind“ anspricht und feststellt, dass „wir beide“ klüger gewesen wären, als der Märchenheld Karlchen, wenn „wir“ in derselben Situation gewesen wären, und am Schluss tut er das auch wieder: „Du wirst nun wissen wollen, wie das alles kam.“ Manchmal wirkt er dabei ein bisschen belehrend, er erklärt Situationen oder teilt dem Kind mit, dass, weil Karlchen es eben für immer für alle vermasselt hat, das Kind selbst jetzt gar nicht mehr versuchen muss, eine Schwimmblase zu bekommen, um wie ein Fisch unter Wasser schwimmen zu können. So stellt er ein Einvernehmen zwischen Erzähler und Kind her, wie auch Storm das tut. Er simuliert eine mündliche Erzählsituation, die üblicherweise mit der Verschriftlichung eines Märchens wegfällt, aber beim Rundfunk ja wieder da ist.

Dahmke: Nun sind in dem jüngst erschienen Band, zu dem sie das Nachwort geschrieben haben, noch einige andere ergänzende Texte von und über Siegfried Lenz abgedruckt. Was alle gemeinsam haben: die Liebe zum Meer und zu den Fischen. Lenz meinte selbst: Bevor er Lesen gelernt hätte, konnte er Schwimmen und Angeln. Was für eine Rolle spielte diese leidenschaftliche Verbundenheit in seiner Literatur?

Ermisch: Für diesen Band haben wir die Texte über Karpfen ausgesucht, weil „Florian“ die Fischgattung vorgibt, aber Sie haben natürlich recht, es wimmelt nur so vor Fischen in Lenzʼ Werk. Denken Sie nur an den Fischzüchterroman „Die Auflehnung“ oder den dramatischen Showdown zwischen Bert Buchner und dem Ich-Erzähler in „Brot und Spiele“, bei dem ein Hecht eine wichtige Rolle spielt. Oder erinnern Sie sich an diese irre Szene im „Überläufer“, in der ein Soldat in den Sümpfen wahnsinnig wird, weil es ihm nicht gelingt, einen Hecht zu fangen, auf den er es schon lange abgesehen hat, und er wildes Zeug über Jesus, den großen Hecht, von der Kanzel brüllt? Eine großartige Szene! Fische schwimmen in fast jedem Text von Siegfried Lenz herum. Und das hat, so denke ich, mit seiner Kindheit zu tun: Er ist an einem See aufgewachsen, das war seine Abenteuerwelt, da hat er sich schon als Junge Geschichten ausgedacht und ist als großer Seeheld über den See geschippert. Mit dem Geschichtenausdenken hat er nie aufgehört.

Dahmke: Und mit dem Angeln ebenfalls nicht. Wie wichtig war dem norddeutschen Schriftsteller die Nähe zum Wasser und zu seinen Karpfen?

Ermisch: Ja, er hat sehr gerne geangelt - bis zu einem gewissen Zeitpunkt wenigstens. Von seiner Angelleidenschaft erzählt eine Fülle von Texten, gerade von Stücken wiederum für den Rundfunk: „Der vollkommene Angler“, „Am Widerhaken hängt das Glück“ oder die Erzählung „Eisfischen“. Man könnte eine ganze Sammlung mit Fisch- und Angeltexten von Lenz zusammenstellen. Lenz hat ein Faible für Fische, sie faszinieren ihn in ihrer Vielfalt, darum neigt er vielleicht auch dazu, Menschen mit Fischen zu vergleichen. Das beste Beispiel ist sicher die Erzählung „Ein geretteter Abend“, in der der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sich in einem großen Zackenbarsch wiedererkennen muss.

Lenz hat immer am Wasser gelebt: in Lyck, in Hamburg und in den Ferien auf Alsen. Das Wasser war sein Element, umso schlimmer war es, als das Ehepaar Lenz das Sommerhaus in Dänemark aufgeben musste und das neue Ferienhaus in Tetenhusen im schleswig-holsteinischen Binnenland stand. Aber auch da wusste sich Lenz zu helfen: Er ließ einen großen Teich anlegen und setzte Fische hinein. Die wurden dann tatsächlich zu einer Art Haustier. Lilo und Siegfried Lenz hatten eine enge Beziehung zu Tieren. Natur war für die beiden ganz wichtig, und da gehörte auch das Wasser dazu: das Meer, Seen oder die Elbe. Denken Sie etwa an den Taucherroman „Der Mann im Strom“. Lenz ist selber gern getaucht und kannte die Welt der Fische – wie seine Märchenfigur Karlchen.


Viele Besuche, Lesungen und gemeinsame Projekte verbanden Siegfried Lenz mit der Buchhandlung FELIX JUD. Foto aus dem Firmenarchiv, mit einer Buchhändlerin und Felix Jud, wahrscheinlich 1975, Bücher signierend (und dabei rauchend).


Dahmke: Ein Aspekt, der mich hat aufhorchen lassen, war Lenzʼ Teich in Gelting, gleich hinter dem Deich der Flensburger Förde, zu dem er mit seiner Frau zwischen 1970 und 1992 immer wieder gereist ist. Auch heute noch heißt er Siegfried-Lenz-Teich. Gelting verband den Schriftsteller Siegfried Lenz mit einem Künstler, der wiederum eng mit der Buch- und Kunsthandlung Felix Jud verbunden ist: Klaus Fußmann. Eine ganz besondere Beziehung?

Ermisch: Klaus Fußmann hat zweimal Bilder zu Lenz-Bänden beigesteuert: zu „Der Geist der Mirabelle“ (2008) und zu „Die Leute von Hamburg“ (2012), also zu Büchern, die im Norden spielen. Da scheinen die beiden eine Verbindung gehabt zu haben. Wo sie sich kennengelernt haben und wann und wo sie sich dann begegnet sind, weiß ich leider nicht. Das gehört eher zur Geschichte Ihres Hauses und da wissen Sie wahrscheinlich mehr darüber als ich. Denn ich weiß nur das, was Klaus Fußmann selbst im Nachwort zu „Der Geist der Mirabelle“ schreibt, und da geht es hauptsächlich um … Karpfen!

Dahmke: Vielen Dank, liebe Frau Ermisch!


Das Buch und eine große Auswahl von anderen Texten von Siegfried Lenz können Sie über unseren Webshop Florian, der Karpfen - Produkt (buchkatalog.de) oder vor Ort am Neuen Wall 13 erwerben.

Mittwoch, 18. August 2021

Cécile Wajsbrot und die belletristische Tiefenschärfe

Die französische Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt, Chefredakteur von SINN & FORM, der Zeitschrift der Akademie der Künste Berlin, sprachen über Literatur und lasen aus dem neuen Wajsbrotroman Nevermore (Wallstein Verlag).



Gäbe es ein intuitives Bewältigungsverlangen der Autorin, das sich in den Romanfiguren niederschlüge, Cécile Wajsbrots Roman Nevermore wäre ein klassisches Vorbild dafür. Als Tochter polnischer Juden 1954 in Paris geboren, studierte sie Literaturwissenschaft und arbeitete, bevor sie Schriftstellerin wurde, als Französischlehrerin und Redakteurin. In ihrem neuen Roman scheint die Autorin besonders intensiv aus ihrer vielleicht innersten Anspannung geschöpft zu haben. Sie lässt ihre Protagonistin gleichfalls Übersetzerin sein, um einerseits die Formdifferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachen zu schärfen, und andererseits, um eine intellektuelle Trostsuche zu durchleben.

Christa Wolf schrieb einst in Kindheitsmuster (1976): „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Wajsbrot sich genau das vornimmt, - um im nächsten Schritt des Romanschreibens ihrem Alter Ego nochmals fremder begegnen zu wollen.

Begleitet von Matthias Weichelt hörte das exklusive Publikum Wajsbrot beim Nachdenken zu. Wie entsteht substanzielle Literatur? Was macht wahrhaftige Romane aus? Für die Schriftstellerin ist Literatur weder reine Wissenschaft noch einzig Kunst. Ihrer Meinung nach müsse es einen zwingenden Sinn geben, welcher durch Sprache eine anregende Ästhetik erhielte. Wajsbrots Werke münden über ihre Sinnhaftigkeit mitunter in einer vielleicht postrealistischsten Wahrhaftigkeit. In Nevermore komponierte sie nicht nur eine vielschichtige Erzählung, sondern sie öffnete in ihr auch einen literaturhistorischen Reigen mit Katastrophenorten und deren multilingualen Beschreibungen.

In einer Selbstreflektion über das eigene Schreiben und damit verbundenen Teil-Sein des Literaturbetriebes, empfahl die Autorin, Texte wie einen Teig ruhen zu lassen. Mit belletristischer Tiefenschärfe gelang es ihr immer präziser dem Text Kontraste abzugewinnen. Weichelt erkannte in diesem Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚vergoldete Arbeit‘. Überhaupt ging es um das Schaffen und Gären von bedeutenden Texten. Es brauche Abstand und eine Sprachfindung um gewachsene, inhaltliche Spannung zu ordnen und erzählen zu können. Man konnte Wajsbrot so verstehen, als dass ein aufgestautes Schweigen zu einer unaushaltbaren Belastung werden würde.

Sich deshalb durch die eigene Stimme wirksam zu bemächtigen, um dann nach diesem psycholiterarischen Schreibprozess eine verführerische Trostliteratur anzubieten, ist die Einladung von Cecile Wajsbrot. Sie verstrickt die Leserschaft in Auseinandersetzungen, welche die Kraft haben, daraus Verantwortung abzuleiten.


Instagram: Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt bei Felix Jud

Cécile Wajsbrot: Nevermore 229 Seiten, 20 € [signierte Exemplare im Laden vorhanden]

Cécile Wajsbrot: Zerstörung 230 Seiten, 20 €

Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra 187 Seiten, 19,80 €

Cécile Wajsbrot: Eclipse 232 Seiten, 19,90 €


Ronald Wendorf


Samstag, 31. Juli 2021

Das vergessene Buch

 Marcus Dahmke im Gespräch mit dem dvb-Verleger Albert C. Eibl

© Albert C. Eibl

Dahmke: Lieber Herr Eibl, der Juli vor genau 7 Jahren, also 2014, war ein besonderer Monat für Sie. Es war die Geburtsstunde Ihres eigenen Verlages. Obwohl... wann und unter welchen Umständen entstand eigentlich die Idee für den dvb-Verlag?  

Eibl: Das war während eines vertrunkenen Abends mit Freunden in Wien. Die leidige Frage, was man mit Germanistik eigentlich später einmal im Leben anfangen sollte, wurde wieder einmal in die Runde gereicht. Da kam mir, gleich einer Epiphanie, der Name „Das vergessene Buch“ in den Sinn. Die Idee ließ mich in den Wochen darauf nicht mehr los. Und so gründete ich Ende 2014 meinen Verlag, freilich noch ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie man sowas eigentlich macht.

Dahmke: Sie sind in München geboren, haben in Italien das Europäische Abitur abgeschlossen, in der Schweiz Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften studiert und den Master in Deutscher Philologie in Österreich gemacht. Mit ihrem Verlag sind sie in Wien, also in Österreich geblieben. Was haben Sie aus dieser bewegten Zeit mitgenommen? Viele Ideen, Inspirationen, nehme ich an?!  

Eibl: Vor allen Dingen ein Bewusstsein für die transkulturelle Wirkmacht der Literatur. Viele Nationalliteraturen bedingen und durchdringen sich, besonders in Europa. Schon in der Schulzeit habe ich unzählige Werke sowohl der deutschsprachigen als auch der italienischen Literatur verschlungen und immer wieder Parallelen und Überschneidungen festgestellt. Während meines Studiums in Zürich habe ich dann erst wirklich lesen gelernt. Texte gleich einer Muschel aufzubrechen, um Ihre Tiefenschichten zu ergründen, das erfordert eine sorgsame Anleitung. Die habe ich in Zürich von einigen hervorragenden Lehrern erfahren.

Dahmke: Neben der Verlagstätigkeit schreiben Sie als freier Rezensent für unterschiedliche Medien u.a. literaturkritik.de, profil und Der Falter. Während Ihres BA-Studiums haben Sie schon in unterschiedlichen Kultur- und Feuilletonredaktionen hospitiert (FAS und MZ). Hilft die Beschäftigung mit der Literatur neben dem Verlag die Augen offenzuhalten für aktuelle Entwicklungen auf dem Buchmarkt?

Eibl: Auf jeden Fall. Zusätzlich sollte man aber auch mit den Verantwortlichen sprechen: Mit Verlegern, Buchhändlern, Autoren und Buchkritikern. So bekommt man schnell mit, was gerade im Buchmarkt passiert und was die neuesten Trends sind. Am besten besucht man eine der großen Buchmessen, die ab Herbst nun hoffentlich wieder in alter Frische abgehalten werden. Drei Tage in Frankfurt und man weiß, dass das Buch noch lebt.

Dahmke: Marta Karlweis, Maria Lazar, Else Jerusalem, drei Autorinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich und darüber hinaus sehr bekannt waren. Jetzt sind bzw. waren ihre Namen und viele ihrer Romane vergessen. Wie sind Sie auf die Autorinnen aufmerksam geworden?

Eibl: Auf Maria Lazar bin ich erstmals aufmerksam geworden in einer Vorlesung des Germanisten Prof. Johann Sonnleitner an der Universität Wien. Mit ihm als Herausgeber habe ich seitdem bei der Wiederentdeckung von Maria Lazar und Marta Karlweis eng zusammengearbeitet. Auf Else Jerusalem hat mich die Grazer Germanistin Prof. Brigitte Spreitzer aufmerksam gemacht. Mein Verlag hat mittlerweile ein so unverwechselbares Profil entwickelt, dass ich jeden Monat viele Tipps von vermeintlich „zu Unrecht vergessenen“ Werken bekomme. Aus jenen Tipps und eigenen Recherchearbeiten speist sich dann das Programm meiner kleinen literararchäologischen Ausgrabungsmaschine DVB.

Eine Auswahl aus dem Programm

Dahmke: Einer ihrer Programmschwerpunkte ist Exilliteratur: Romane von geflüchteten und vertriebenen AutorInnen aus der Zeit des Dritten Reichs. Warum ist es so wichtig, ihre Texte auch für das heutige Lesepublikum wieder zugänglich zu machen? Und was für Schwierigkeiten sind mit dem Auffinden dieser Texte häufig verbunden?

Eibl: Literarische Werke der Vertriebenen und des Exils sind zumeist Zeugnisse unfassbar schwieriger und schmerzlicher Zeiten, in denen nicht nur der Mensch, sondern auch die Sprache der Schreibenden an die Grenzen des Sagbaren stößt. Jene harten Lebenswege von Autorinnen und Autoren nachzuvollziehen, die sich ein gänzlich neues Lebensumfeld erschaffen mussten – und gleichzeitig zu wissen, dass solche Zeiten jederzeit wiederkommen können – ist schockierend, aber historisch heilsam. Mein Verlag hat es sich auf die Fahnen geschrieben, zu Unrecht vergessene Werke wiederzuentdecken. Ich verlege also hauptsächlich und zuvorderst Werke, die nahezu vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurden – oder noch nie in jenes eingegangen sind. So vergessen diese Texte sind, so schwierig ist es auch, sie aufzustöbern. In den bereits publizierten Tagebüchern berühmter Schriftsteller wie Thomas Mann, Stefan Zweig oder Arthur Schnitzler stößt man ab und an auf den ein oder anderen zu Unrecht vergessenen Namen. Ansonsten bleibt kein anderer Weg als sich wirklich ins Dickicht der Archive zu schlagen.

Dahmke: Es entstehen nach und nach umfangreiche Neueditionen, z.B. gibt es bereits einige Bände vom Gesamtwerk von Maria Lazar und Marta Karlweis. Sind alle Bände geplant oder bleibt es bei einer Auswahl?

Eibl: Johann Sonnleitner und ich hegen schon lange die Idee einer kommentierten Gesamtausgabe der Werke von Maria Lazar und Marta Karlweis. Die Qualität und der Facettenreichtum der jeweiligen Ouevres würde eine solche Anstrengung auf jeden Fall rechtfertigen. Für ein solch verlegerisches Großunterfangen bräuchten wir allerdings eine solide Finanzierung. Sei es vom österreichischen Staat, der Universität Wien oder Institutionen wie der österreichischen Exilbibliothek.

Dahmke: Im Herbst 2021 geht es bereits weiter. Einige Neuentdeckungen erscheinen! Ich persönlich freue mich schon sehr auf „Rendezvous in Manhattan“ von Grete Hartwig-Menschinger (1899-1971), die ich bisher noch nicht kenne! Worum geht es?

Eibl: Das ist in der Tat eine echte Ausgrabung, die im New York der frühen 1940er Jahre während des Zweiten Weltkriegs spielt. Eine junge, attraktive Frau aus dem Arbeitermilieu bahnt sich ihren Weg in die Kreise der Upperclass. Eine packende Milieustudie und ein leidenschaftlicher Liebesroman, den die völlig unbekannte Schwester der bereits erfolgreich wiederentdeckten Schriftstellerin Mela Hartwig (1893-1967) in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil geschrieben hat. Dieser Roman ist 1948 erstmals in einem kleinen Wiener Verlag erschienen und danach so gründlich vergessen worden wie seine Autorin.

Dahmke: Was kann man von Ihnen und dem dvb-Verlag in Zukunft noch erwarten? Wohin soll es gehen? Und was für Schätze können aus den Archiven noch gehoben werden? Beziehungsweise schlummern schon in Ihrer Schreibtischschublade...

Eibl: Mein Verlag Das vergessene Buch wird sich auch in Zukunft treu bleiben und weiterhin zu Unrecht vergessene Perlen der deutschsprachigen Literaturgeschichte dem Orkus der Vergessenheit entreißen. Ich will mich aber in den nächsten Jahren auch Werken anderer Sprachräume widmen, die zu Unrecht vergessen wurden und das Verlagsprogramm dementsprechend ausweiten. Mit Oliver Lubrich von der Universität Bern plane ich gerade neben dem „Geheimen Tagebuch“ John F. Kennedys von dessen Reise nach Nazideutschland aus dem Jahr 1937 eine deutsche Ausgabe von Marcel Jouhandeaus „Le Voyage secret“. Es bleibt also weiterhin spannend!

Dahmke: Vielen Dank, lieber Herr Eibl, für das Interview!


Die Bücher des dvb-Verlags finden Sie bei uns im Geschäft oder über unseren Webshop.

Eine Auswahl für Sie:

Maria Lazar: Leben verboten! - Produkt (buchkatalog.de)

Marta Karlweis: Der Zauberlehrling - Produkt (buchkatalog.de)

Marta Karlweis: Ein österreichischer Don Juan - Produkt (buchkatalog.de)

Else Jerusalem: Der heilige Skarabäus - Produkt (buchkatalog.de)


Vorbestellbar:

Grete Hartwig-Menschinger: Rendezvous in Manhattan

Donnerstag, 29. Juli 2021

This land is not your land

Rezension von Marcus Dahmke zu „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ von C Pam Zhang.

C Pam Zhang ©Gioia Zloczower 

Über die Autorin: C Pam Zhang wurde 1990 in Peking geboren, lebt inzwischen aber nach mehreren Stationen in San Fransisco. Ihr Debütroman war letztes Jahr u.a. für den Booker Prize nominiert und eines von Obamas Lieblingsbüchern.     

Originalausgabe und Ausgabe bei S. Fischer 

Es gibt sie noch: diese grandiosen ersten Sätze, die immer wieder gelesen werden wollen, weil in ihnen die Essenz eines ganzen Romans steckt. Im Falle von Wie viel von diesen Hügeln ist Gold von der in Peking geborenen und in Amerika aufgewachsenen Autorin C Pam Zhang sind es die Worte: „Ba stirbt in der Nacht und so machen sie sich auf die Suche nach zwei Silberdollars.“ Nicht für sich selbst, sondern um die Augen des Toten - ihres eigenen Vaters - zu bedecken, wollen die Waisenkinder Sam und Lucy die Münzen benutzen. Die Reise ins Jenseits muss bezahlt werden. Aber aus der Suche nach den Silberdollars und nach einer geeigneten Begräbnisstätte wird eine Suche nach viel mehr: dem eigenen Platz in der Welt.

Sie haben nicht viel mehr als sich selbst, eine Pistole mit wenig Munition und die Leiche des eigenen Vaters auf dem Rücken des Pferdes. Sam und Lucy, die Hauptprotagonistinnen von C Pam Zhangs Debütroman stehen vor einer schweren Entscheidung: wohin sollen sie sich ohne Eltern in der endlosen Weite des amerikanischen Westens wenden? Im Bergbaustädtchen, in dem sie bis zuletzt in einer winzigen Hütte mit ihren Eltern gelebt haben, können sie nicht bleiben. Weit im Westen ruft das Meer, ruft eine Heimat, die keine ist; eine Heimat, die die beiden Kinder nur aus den Erzählungen ihrer Mutter zu kennen glauben. Wohin wird ihr Weg sie führen? Weiter hinein in eine einstmals unbezähmbare Natur, voll von Leben, von Tieren, die über saftig-grüne Hügel strichen? Zumindest den Mythen und Legenden des Vaters nach... Gibt es dieses sagenhafte Land überhaupt noch oder hat der Mensch in seiner Gier nach Gold, nach persönlichem Reichtum, bereits zu tief geschürft? Verdient der Boden, auf dem sie aufgewachsen sind, den sie bisher immer „Zuhause“ nennen konnten, diese Bezeichnung noch?

Mit einer ganz eigenen Erzählstimme, einer Mischung aus Cowboyslang und Pidgin (das vor allem in der englischsprachigen Originalausgabe zur Geltung kommt) wird eine Welt erschaffen, die zunächst einmal vertraut erscheint. Beziffert sind die einzelnen Teile jedoch mit Buchstaben und Zahlenkombinationen wie XX62, die die Leserin und den Leser gewollt irritieren. Wer Haruki Murakamis 1Q84 kennt horcht nun bereits auf. Die Autorin entwirft in Wie viel von diesen Hügeln ist Gold eine alternative Geschichtszeit. In einem Interview mit Teresa Pütz vom S. Fischer Verlag verriet sie, dass sie den Roman u.a. für jene Menschen schreibt, die in den meisten Geschichtsbüchern bisher keinen Platz gefunden haben, zum Beispiel den chinesischen Arbeitsmigranten, die für den Bau der Eisenbahnlinien in Nordamerika ins Land geschifft worden sind. Entstanden ist ein „Heldenepos für den Rest von uns“.

So erklärt sich auch das vorangestellte Motto des Romans: This land is not your land.

Das Geschwisterpaar Sam und Lucy, das den Leser und die Leserin über große Teile des Romans begleiten wird, sind Kinder einer chinesischen Arbeitsmigrantin und einem Goldgräber. Als Familie, der man ihre ,Andersartigkeit‘ ansieht, haben sie es nicht leicht einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Vor allem die Mutter sehnt sich nach der alten Heimat, nach dem Land hinter dem großen Meer, das wie eine Mauer aber auch wie ein verbindendes Element in ihren Erzählungen erscheint. Übers Meer bin ich gekommen, übers Meer werde ich in die Heimat zurückkehren, denn dieses Land ist nicht mein Land. Aber es ist das Land ihres Mannes und ihrer beiden Kinder, die hier großgeworden sind. Vermeintlich! Denn auch sie tragen asiatische Züge und werden ausgeschlossen, die Kinder dürfen zunächst keine Schule besuchen, werden gemobbt, bleiben für sich; Sam, die eigentlich Samantha heißt, aber mehr und mehr in die Rolle eines Mannes schlüpft, und Lucy, die alle Erzählungen liebt und sich blauäugig und unhinterfragt in einem schon lange bestehenden System bewegt. Beide werden die Herausforderungen des Lebens auf ihre eigene Art angehen, Lösen oder Scheitern.

C Pam Zhang hat mit Wie viel von diesen Hügeln ist Gold, mit dem sie 2020 für den renommierten Booker Preis nominiert war, einen Roman der Stunde geschrieben, in dem viele aktuelle Themen scheinbar nebenbei behandelt werden und trotzdem den Inhalt formen: Identität, Gender, Heimat, Familie, Verlust. Verlust der Natur aber auch von nahestehenden Menschen... und die unvermeidlich folgende Trauer und Trauerbewältigung. Diese Leere, die kommt, manchmal ein Leben lang bleibt und nicht gehen will.

Ein Buch, das in seiner erzählerischen Wucht, seiner Feinfühligkeit und Rauheit bleiben wird!


Bestellen Sie Ihr Exemplar ganz einfach über unseren Webshop Wie viel von diesen Hügeln ist Gold - Produkt (buchkatalog.de) oder holen Sie den Roman direkt am Neuen Wall ab.


Buchempfehlungen und Quellen der Inspiration für C Pam Zhang:

Proulx: Schiffsmeldungen - Produkt (buchkatalog.de)

Ondaatje: Divisadero - Produkt (buchkatalog.de)

Morrison: Menschenkind - Produkt (buchkatalog.de)