Die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung veröffentlichte jüngst einen Band mit drei Reden von Peter Fischer-Appelt über die Weiße Rose Hamburg. Wir haben mit Dr. Ekkehard Nümann, Vorsitzender der Stiftung und Herausgeber des Buches gesprochen.
Robert Eberhardt: Die Weiße Rose wird zumeist mit den Widerstandskämpfern in München assoziiert. Was verband die Geschwister Scholl und die anderen antifaschistischen Helden mit Hamburg?
Ekkehard Nümann: In der deprimierenden Geschichte der „Selbstgleichschaltung“ der deutschen Universitäten im „Dritten Reich“ ist der unter dem Kürzel der „Weißen Rose“ bekannte studentische Widerstand an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu Recht seit langem international anerkannt. Die Literatur über die Geschwister Hans und Sophie Scholl und ihre Kommilitonen sowie den Professor Kurt Huber ist kaum überschaubar. Immer noch wenig bekannt ist jedoch, dass es aus diesem Kreis und seinem Umfeld mehrfache Beziehungen zu Hamburg gab, vor allem zu einigen Studierenden der hiesigen Universität. Diesen Beziehungen, begründet zumeist in gemeinsamer Schul- und Studienzeit, in einem Einzelfall auch 1940 in einem Kraterloch an der „Westfront“, nachzuspüren, lohnt sich.
Dass die Hamburger Kommilitoninnen und Kommilitonen dabei eine eher nachvollziehende Rolle gespielt haben, ist unbestritten. Ebenso eindeutig sollte allerdings die Achtung gegenüber ihrer Bereitschaft sein, für die Botschaft aus München sowie ihre jeweils eigenen Überzeugungen auch durch Akte des konkreten Widerstands gegen die allgegenwärtige Diktatur im Wissen um die Gefahr ihr Leben zu riskieren. Mit dem „Helden“-Begriff sollten wir allerdings vorsichtig sein. Nur durch glückliche Umstände ist ihnen der Münchener Blutzoll erspart geblieben. Leider gilt dies nicht für den Studenten der Chemie Hans Konrad Leipelt, neben der heute im Alter von 102 Jahren bewusst in den USA lebenden Traute Lafrenz das zentrale Bindeglied zwischen dem Münchener „Stamm“ und dem Hamburger „Zweig“ der Weißen Rose.
Eberhardt: Der Band erschien anlässlich des 100. Geburtstags von Hans Leipelt am 18. Juli 2021. Wer war dieser Student, den die Nazis im Alter von 23 Jahren hinrichteten?
Nümann: 1921 in Wien geboren, absolvierte Hans Leipelt nach dem Abitur in Hamburg zunächst den Arbeitsdienst, anschließend leistete er den Wehrdienst ab. Im August 1940 wurde er aus der Wehrmacht entlassen, weil seine Mutter nach den nationalsozialistischen „Nürnberger Rassegesetzen“ als Jüdin galt. Sein Vater konnte ihm jedoch einen Studienplatz für Chemie an der Hamburger Universität verschaffen. Dort bildete sich bald ein Kreis von oppositionell eingestellten Freunden um ihn. Im Winter 1941/42 wechselte Hans Leipelt nach München an das weithin bekannte Chemische Institut von Professor Heinrich Wieland, der mehrfach rassisch Verfolgten half. Die Nachricht von der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts trieb Hans Leipelt und seine Freundin Marie-Luise Jahn zum aktiven Widerstand. Weil sie sich ganz der Weißen Rose verpflichtet fühlten, schreiben sie das letzte Flugblatt ab, verbreiteten es auch außerhalb Münchens und wurden so zum wichtigsten Bindeglied zwischen ihrem Münchener „Stamm“ und dem Hamburger „Zweig“. Hans Leipelt wurde am 8. Oktober 1943 in München festgenommen, aber erst am 13. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 29. Januar 1945 im Strafgefängnis München-Stadelheim ermordet. Marie-Luise Jahn wurde vom Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt und am 29. April 1945 aus dem Zuchthaus Aichach befreit.
Eberhardt: Den studentischen Widerstand gegen den Naziterror kann man gar nicht ausreichend genug vermitteln, würdigen und im Denken bewusst halten. Was denken Sie: Könnten wir in Hamburg nicht noch an mehr Orten, deutlicher und öfter an diese mutigen Menschen erinnern? Bei Felix Jud möchten wir in Zukunft zum Beispiel permanent auch die Lebensgeschichte unseres Firmengründers und seines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten darstellen und ehren.
Nümann: Gewiss könnte und sollte „man“, sowohl die Stadt als auch ihre vorrangig betroffenen Institutionen, ernsthaft, aber behutsam überlegen, welche Beiträge sie noch zur Verankerung dieser Menschen in der städtischen Erinnerungskultur leisten könnten. Dabei sollten wir allerdings, bevor wir uns auf vermeintliche „Leerstellen“ stürzen, berücksichtigen, was bisher seit den 1970er Jahren geschaffen worden ist.
In der Universität Hamburg existieren neben der bronzenen Gedenktafel von Fritz Fleer im Audimax vom September 1971 seit April 2010 die von ihren Mitgliedern durch Spenden bezahlten Stolpersteine vor dem Hauptgebäude in der Edmund-Siemers-Allee, im dortigen Universitätsmuseum seit Herbst 2019 immerhin ein knapper Hinweis. Im UKE wurde im Dezember 1987 ein Praktikumsgebäude nach den beiden Kandidaten der Medizin Margaretha Rothe und Friedrich Geussenhainer in „Rothe-Geussenhainer-Haus“ benannt und mit einer Gedenktafel versehen. Derzeit laufen in mehreren Fakultäten Diskussionen um die künftige Benennung von Hörsälen. Es ist wahrscheinlich, dass es in der Chemie einen „Hans Leipelt-Hörsaal“ geben wird, im „Philosophenturm“ am Von-Melle-Park nach seiner Renovierung hoffentlich auch einen „Karl Ludwig Schneider-Hörsaal“. Auf studentische Initiative hat das Studierendenwerk Hamburg zum Dezember 2016 die zuvor nach dem Chirurgie-Ordinarius Paul Sudeck benannte Wohnanlage am Stadtpark nach ihrer Grundsanierung in „Margaretha-Rothe-Haus“ umbenannt.
In der Innenstadt erinnert eine von der Kulturbehörde initiierte „Schwarze Tafel“ seit September 1987 am Jungfernstieg 50 – dem Ort der einstigen Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“ –an deren Juniorchef stud. phil. Reinhold Meyer sowie die anderen (nicht nur studentischen) Todesopfer der „Hamburger Weißen Rose“.
In HH-Rotherbaum liegt vor der Wohnung der Familie Meyer (später Anneliese Tuchels) am Hallerplatz 15 ein Stolperstein für Reinhold Meyer, vor der Johnsallee 63 ein solcher für Friedrich Geussenhainer.
Angeregt durch Recherchen von Schüler*innen des Gymnasiums Ohmoor waren bereits 1984 in HH-Niendorf in einem Neubaugebiet elf Straßen nach oppositionellen Frauen und Männern benannt worden, unter ihnen drei aus dem Kreis der „Hamburger Weißen Rose“: neben Curt Ledien die Studierenden Reinhold Meyer und Margaretha Rothe. Seit 1987 werden die Namen ergänzend „erläutert“ durch das dortige gemauerte Mahnmal „Tisch mit 12 Stühlen“ von Kurt Schütte.
In HH-Volksdorf erinnert seit 1978 das Mahnmal „Weiße Rose“ von Franz Reckert am bereits 1974 benannten „Weiße-Rose-Platz“ (Im alten Dorfe) an den studentischen Widerstand, zunächst jedoch wohl ausschließlich an den Münchener „Stamm“; eine nicht belegte „Uminterpretation“ auf den Hamburger „Zweig“ erfolgte erst später; sie kann sich anscheinend auf eine dort nachträglich angebrachte Gedenktafel stützen.
In HH-Wilhelmsburg und HH-Harburg wird der Familie Leipelt mehrfach gedacht: Bereits seit 1964 erinnert die Leipeltstraße in Wilhelmsburg zunächst an Hans Leipelt, seit August 2017 durch eine zusätzliche „Erklärtafel“ auch an seine in den Suizid getriebene Mutter Dr. Katharina Leipelt. Die Familie wird anscheinend auch auf einer Tafel im Harburger Rathaus ehrend benannt. Am ersten Harburger Wohnsitz der Familie in der Vogteistraße in HH-Rönneburg wurde 1988 eine Gedenktafel angebracht, die ausdrücklich auch seine Schwester Maria und die Mutter Dr. Katharina Leipelt erwähnt. Seither liegen an den beiden einstigen Wohnorten (dort und in der Mannesallee) auch mehrere Stolpersteine zur Erinnerung an diese beeindruckende Familie. Die heutige Stadtteilschule Wilhelmsburg erinnert seit 1990 am Haupteingang ihres Standorts Rotenhäuser Straße 67 mit einem Porträt und einer Tafel an die einstigen Schüler Hans und Marina Leipelt.
Seit November 1988 tragen die zusammengelegten Schulen Gymnasium Hartzloh und Elise-Averdieck-Gymnasium in HH-Barmbek auf Anregung der Schulkonferenz und Beschluss des Senats den Namen „Margaretha-Rothe-Gymnasium“. In der ehemaligen „Lichtwarkschule“ in HH-Winterhude (der heutigen Heinrich-Hertz-Schule), in der mehrere Zugehörige der „Hamburger Weißen Rose“ prägende Impulse, vor allem von der 1945 mitangeklagten Lehrerin Erna Stahl, erfahren hatten, erinnert seit April 1994 eine Stahltafel auch an Margaretha Rothe; ein Stolperstein liegt vor dem Gymnasium Klosterschule in HH-St. Georg, an welchem sie 1938 ihr Abitur gemacht hat. Nach Erna Stahl heißt seit 2008 der Erna-Stahl-Ring in einem Neubaugebiet im Ortsteil Klein Borstel des Stadtteils HH-Ohlsdorf. Auf dem dortigen Friedhof wird auf dem 2001 angelegten „Garten der Frauen“ in einer „Erinnerungsspirale“ mit einem gemeinsamen Stein auch Erna Stahls und Margaretha Rothes gedacht.
Eberhardt: Vielen Dank für das Gespräch!
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