Samstag, 27. März 2021

Die Einheit der Welt

© UHH RZ, Mentz

Dahmke:
Liebe Frau Recki, in der schönen Reihe Fröhliche Wissenschaft, die bei Matthes und Seitz erscheint, ist ihr neuester Essay „Natur und Technik. Eine Komplikation“ erschienen. Von der Prometheus-Sage über Philosophen wie Rousseau und Kant und dem Universalgenie Leonardo Da Vinci schreiben Sie über ein sich stetig wandelndes und sich ausdifferenzierendes Natur- und Kulturverständnis. Rousseau meinte gar, dass die Kultur den Menschen weg von der Natur führen würde... Leben wir also in einer nur mehr vom Menschen geformten aber naturfernen Welt? Wie enggefasst ist unser „modernes“ Naturverständnis?

Recki: In der These, dass wir in einer vom Menschen völlig überformten Welt lebten, ja es gäbe vor lauter menschlichem Eingriff  gar keine Natur mehr, wird Natur so vorgestellt, als wäre sie ein Rohstoff, der sich in der Formung verbraucht, und dabei zugleich als ursprüngliche Güte und Wildnis, die man vor der menschlichen Berührung hätte schützen müssen. Die beiden Vorstellungen widersprechen einander nicht nur – sie drohen uns auch zu desensibilisieren gegenüber den vielfältigen Weisen, in denen mitten in der zivilisierten Welt die Natur weiterhin fortbesteht und wirkt. Da finde ich: das Verhältnis von Natur und Kultur hat ein achtsameres Denken verdient. Schließlich steht es im Zentrum des menschlichen Selbstverständnisses. In meinem Essay habe ich Station gemacht bei einer Handvoll markanter und prägender Positionen, die zum Nachdenken über diese Komplikation einladen – über den Menschen, zu dessen Natur es gehört, Kultur zu haben. Im Fokus steht das Erbe Rousseaus, das uns bis heute belastet. Laut Rousseau ist der Mensch von Natur aus gut – und es ist die Kultur, es ist mit anderen Worten sein eigenes Werk, das ihn verdirbt, indem es ihn von der Natur entfremdet. Der Gedanke ist gut gemeint, aber fatal selbstwidersprüchlich. Ich setze Kants spekulative Einsicht dagegen, dass der Mensch als Lebewesen mitsamt seiner Vernunft und Freiheit ein „Naturprodukt“ ist. 

Dahmke: Lässt sich der Dualismus „Natur – Kultur“, bzw. physis und thesis überwinden? Und wenn ja, wie?   

Recki: Dieser Dualismus soll uns ja die Welt und unsere Stellung in ihr durch eine gedankliche Konstruktion verständlich machen. Und er lässt sich zunächst auch nur dort auflösen: Im Denken. Dabei muss man  aber sehen, dass unser Handeln durchlässig ist für die Gedanken, die uns überzeugen. Ein solches Konstrukt ist deshalb nicht bloß ein Problem der Theorie, sondern zieht seine Praxis nach sich. Das heißt aber auch: Wenn wir uns zutrauen, ihm eine Alternative wie die der komplizierten Funktionseinheit entgegenzusetzen, kann es gelingen, unsere Wahrnehmung zu präzisieren und unsere Praxis daran zu orientieren. – Für das Thema meines Essays hat das eine besondere Pointe: Es ist eine andere Technik, ein anderer Umgang mit Technik denkbar, worin die ganzheitliche Überzeugung vom Verhältnis Natur-Kultur Gestalt annimmt und in die Gestaltung der Welt eingeht.

Dahmke: Natur und Kultur. Aber was hat die Technik und Leonardo Da Vinci mit beidem zu tun? Leben wir in einer Leonardo-Welt?

Recki: Was Kultur ist, wird in der Technik exemplarisch: Sie gilt als Extremfall dessen, was sich als `Menschenwerk´ von allem natürlich Gegebenen absetzt. Wie unter einem Brennglas kann man im Blick auf die Technik studieren, was Kultur, was ihr Nutzen und Nachteil für die Menschheit ist. In dem häufig beschworenen Gegensatz zur Natur wäre indessen Technik gar nicht möglich – sie funktioniert nur auf der Basis der Naturgesetze.

Und Leonardo? Sein Ingenium besteht darin, dass er Wissenschaft, Technik und Kunst zu einer Einheit gebracht hat – zur arbeitsteiligen Einheit wechselseitiger Steigerung produktiver Funktionen. In Leonardo verkörpert sich der neuzeitliche Entwicklungsschub, dem die abendländische Welt ihre Verfassung verdankt. Der Ausdruck „Leonardo-Welt“, den der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß geprägt hat, ist die Metapher für die spezifische Rationalität, die sich in unserer Kultur ausprägt. – Ja, und mir scheint die Diagnose, dass wir in einer Leonardo-Welt leben, weiterhin zutreffend – vorausgesetzt wir nehmen in den Begriff auch das Element auf, das Hans Blumenberg in seiner Würdigung Leonardos geltend gemacht hat: die politische Rationalität.

Dahmke: Vielen Dank, liebe Frau Recki!


Birgit Recki: Natur und Technik. Eine Komplikation. DE NATURA VIII. Fröhliche Wissenschaft bei Matthes und Seitz Bd. 178. Entweder über unseren Webshop Natur und Technik. Eine Komplikation - Produkt (buchkatalog.de) oder vor Ort bei Felix Jud bestellen oder einfach abholen.


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