Dienstag, 23. März 2021

Welche Ausgabe darf es sein? Neuübersetzungen von Orwells Kultbuch 1984

Am 21.01.1950, nur wenige Monate nach der Erstveröffentlichung einer der heutzutage bekanntesten Texte des 20. Jahrhunderts, starb der englische Schriftsteller, Essayist und Journalist Eric Arthur Blair, der wohl eher unter dem Namen George Orwell hierzulande bekannt sein dürfte. Und jetzt 70 Jahre nach seinem Tod ist das gesetzliche Urheberrecht, das nach § 64 UrhG allgemein für Schriftwerke gilt, so auch für die Publizistik Orwells, erloschen. Was bedeutet das für den Buchmarkt? Durch den Stellenwert, den der dystopische Roman 1984 im literarischen Kanon immer noch hat, nutzen viele Verlage die „gesetzliche Chance“ diesen einflussreichen Text in ihr Portfolio, in ihr Verlagsprogramm, aufzunehmen.

Gab es in den letzten Jahren fast nur die Übersetzung von Michael Walter beim Ullstein Verlag in zwei unterschiedlichen Ausgaben, so ist man im Frühjahr 2021 nahezu überfordert von der Auswahl an Neuübersetzungen (mal mit, mal ohne Nachwort, mal gebunden, mal als Taschenbuch, mit und ohne Illustrationen usw.). Namhafte Verlage wie Manesse, Insel, dtv, Rowohlt und Reclam haben bereits Ende Januar/Anfang Februar ihre Ausgaben herausgebracht, es folgte noch die Neuübersetzung von Fischer im Februar bzw. März. Um einen kurzen Überblick zu geben, seien im Folgenden die sprachlichen und gestalterischen Besonderheiten ausgewählter Hardcover-Ausgaben vergleichend dargestellt.

1) Neuübersetzung bei Insel von Eike Schönfeld

Im Insel-Verlag erscheint nur Orwells 1984 und nicht „Farm der Tiere“. Übersetzt ist der Text von Eike Schönfeld, die bereits andere Klassiker aus dem 20. Jahrhundert für den Verlag ins Deutsche übertragen hat, z.B. Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray. Anders als bei Wilde ist diese Ausgabe aber rein auf die Geschichte fokussiert, es gibt weder Vor- noch Nachwort, keine Einordnung in heutige Verhältnisse, keinen Anhang und Annotationen. Die Übersetzung ist nicht so kurz und präzise wie andere, sondern etwas ausschweifender in den Satzkonstruktionen. Dafür schmeicheln sowohl Typografie als auch Satz dem Auge. Unter dem Umschlag gibt es eine Augen-Prägung auf dem Pappband, ein Lesebändchen findet man allerdings nicht. Für 20,- € kann man den Band erwerben.

Im Geschäft oder im Webshop: 1984 - Produkt (buchkatalog.de)

Fazit: Schön gestalteter Band mit Prägedruck auf dem Pappband ohne viel Firlefanz an Sekundärtexten. Wer „nur“ eine Neuübersetzung haben möchte, greife zu. Liegt gut in der Hand.


2) Neuübersetzung bei dtv von Lutz-W. Wolff  


Lutz-W. Wolff hat die Neuübersetzung bei dtv besorgt, den man als Übersetzer von Fitzgerald und London kennt, gewohnt nah am Originaltext mit spannenden neuen Übertragungen ins Deutsche. Eine – wenn auch nur sehr kurze – Einordnung von Autor und Werk für den heutigen deutschen Leser gibt Robert Habeck. Diese Ausgabe glänzt allerdings durch Anmerkungen und einen chronologischen Lebenslauf von Orwell (Zeittafel). Anders als bei Insel hat der Deutsche Taschenbuch Verlag dem Band ein blaues Lesebändchen gegönnt, dafür fehlen Prägung als auch eine spannende Gestaltung unterhalb des auf die Zahl und ein Auge reduzierten Covers. Zudem lässt die Qualität des Umschlags und des Pappbandes im Vergleich zu den anderen genannten Ausgaben etwas zu Wünschen übrig, leider! Verlagsfrisch für 24,- € zu bekommen. „Farm der Tiere“ gibt es ebenfalls in einer ähnlichen Ausstattung.

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Fazit: Gelungene Übersetzung, nah am Original, mit kurzem Nachwort aber einigen interessanten Annotationen und einer lesenswerten Tafel, leider – im Vergleich – qualitativ nicht ganz so hochwertig eingebunden, aber mit Lesebändchen.


3) Übersetzung bei Manesse von Gisbert Haefs   


Grell und bunt kommt die neue Ausgabe von 1984 bei Manesse daher. Man wundert sich zunächst über die Dicke dieses von Gisbert Haefs (Kipling, Thackeray, Jerome K. Jerome) übersetzten Bandes. Das liegt zum einen an der Seitenstärke, als auch an der angenehmen Schriftgröße, die der Manesse Verlag gewählt hat. Beides sorgt dafür, dass der Text um fast 50 Seiten länger ist als der von anderen. Die Übersetzung ist sehr zu empfehlen, präzise und modern gehalten, der Text bekommt damit eine sehr zeitgemäße Form. Famos ist überdies das umfangreiche Nachwort von Mirko Bonné, in dem er u.a. über die nicht eindeutige Erzählinstanz und die Vergangenheitsform des Romans nachdenkt. Zudem gibt es die so notwendige editorische Notiz am Ende. Für mich persönlich gewöhnungsbedürftig ist die knallige Gestaltung dieses großen, etwas unhandlichen Bandes, der nicht zur ursprünglichen Manesse-Bibliothek zählt. Zum Meckern auf hohem Niveau zählt bei diesem Band auch der fehlende Leinenband (den aber keiner der Bände aufweisen kann!) und den wir bei Manesse wohl nicht mehr sehen werden. Ein Lesebändchen ist vorhanden. Auch gibt es eine Neuübersetzung von Farm der Tiere in ähnlicher Ausstattung - wer einheitliche Rücken im Regal stehen haben möchte. 22,- € und Sie sind dabei!

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Fazit: Für mich persönlich, auch wenn die Gestaltung gewöhnungsbedürftig ist, die editorisch beste Ausgabe im Hardcover. Sehr gute, moderne Neuübersetzung des Klassikers mit ausreichend Anhang. Sehr zu empfehlen! 


4) Übersetzung bei S. Fischer von Frank Heibert


Wer es etwas opulenter mag: Die wohl innovativste Übersetzung bietet der S. Fischer Verlag mit Frank Heiberts Version von Orwells 1984. Hier gilt es den Roman neu in deutscher Sprache zu entdecken! Der Kniff, den Heibert anwendet, ist so einfach erklärt und banal wie genial (wie man im Nachwort nachlesen kann): er übersetzt nicht im Präteritum, sondern im Präsens und verleiht dem Text damit eine beklemmende Aktualität! Der Roman des 20. Jahrhunderts wird zur Dystopie des 21. Auch durch die etwas andere Ausstattung glänzt der Roman: ein flacher Rücken, Lesebändchen, aber vor allem die kongenialen Illustrationen von Reinhard Kleist, der bereits die Feder für die Neuübersetzung von Schöne neue Welt bei Fischer geschwungen hat. By the way: es gibt eine Stanzung im Pappband. Einen Umschlag braucht dieses Buch durch die andere Herstellungsart nicht.

Gleich drei Ausgaben gibt es in der Neuübersetzung von Heibert: eine Taschenbuchausgabe für 12,- € (ohne Zeichnungen von Kleist), eine normale gebundene Ausgabe für 38,- € und eine auf 300 Exemplare limitierte Pracht- bzw. Vorzugsausgabe mit einem von Reinhard Kleist signierten Siebdruck und bezogenem Pappschuber für 98,- €.

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Fazit: Ganz egal für welche Ausgabe man sich bei dieser innovativen Übersetzung entscheidet, man lernt 1984 noch mal etwas anders kennen. Zu empfehlen sind die illustrierten Ausgaben, da die Bilder von Kleist die beklemmende Atmosphäre des Romans hervorragend einzufangen wissen! Tolle Ausstattung, spannender Übersetzungsansatz, für etwas mehr Geld.


Graphic Novel Adaption bei Knesebeck


 
Erwähnt sei die kongeniale Graphic Novel Adaption von Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa, erschienen bei Knesebeck. Wer sich mehr Bild und weniger Text dieser aussagekräftigen Geschichte wünscht, dem sei mit dieser Ausgabe geholfen, in der Übersetzung aus dem Französischen von Anja Kootz. 22,- € bezahlt man für diese Form der Ausarbeitung.
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Hinweis: Natürlich konnte nicht Rücksicht auf alle Neuübersetzungen genommen werden. Es handelt sich – wie eingangs erwähnt – um eine Auswahl.

 

Empfehlungen von: Marcus Dahmke

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